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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.07.2000, Nr. 165, S. BS3

Intensivstation

9. Meine achte Woche im Krankenhaus: Heute habe ich die neuen Richtlinien für ein noch erfolgloseres ARD-Fernsehspielprogramm bekommen. So eine Art Dogmaregel für 68er, die ihren wachsenden Misserfolg durch mitwachsende Hohlheit zu vertuschen suchen. Ich zitiere eine Textpassage, die man auch im evangelischen Pressedienst nachlesen kann, da man mir vielleicht unterstellt, ich hätte so einen Blödsinn nur erfunden. Dem ist aber nicht so. Zitat: "Ein Einzelfilm oder auch Mehrteiler am Mittwochabend 20.15 Uhr sollte vorrangig Stoffe und Geschichten aus der Gegenwart, spannend und bewegend, heiterkomisch emotional, originell, relevant/interessant, witzig und modern sein. Krimis nur im Ausnahmefall, in begrenztem Umfang auch Doku-Dramen (Achtung: Keine Dokumentationen), auch Filme für jüngere Zielgruppen, ohne ältere abzuschrecken." Zitatende.

Was ist da los? Umgeschrieben auf chirurgische Eingriffe bei ziemlich hoffnungslosen Fällen würde das heißen: "Eine Teil- oder auch Großoperation sollte sich vorrangig an aktuellen Krankheiten aufhalten und nicht an bereits besiegten." Bis hierhin wollen wir zustimmen. Doch dann: "Die Operation sollte für Verwandte, den Patienten, aber auch die zugezogenen Ärzte spannend und bewegend sein." Als Patient kann ich da überhaupt nicht zustimmen, wenn meine Operation für die operierenden Ärzte spannend und bewegend wird. Das bedeutet nämlich nichts anderes, als dass meine Ärzte nicht mehr genau wissen, was sie da eigentlich vorhaben, sondern nur mal gucken, was denn so Spannendes und Bewegendes mit mir passiert, wenn man hier oder da mal was abschneidet oder hinzufügt. Unverschämtheit! Wenn man an mir herumoperiert, dann bestehe ich darauf, dass es zu meiner Unterhaltung dient und nicht zur Unterhaltung von erfolglosen Programmdirektoren der ARD, verstehen Sie? Die Methode ist doch ganz einfach! Nehmen Sie zum Beispiel die Regeln zur Steuerreform, Gebrauchsanweisungen für Notlandungen in Wien oder den letzten Brief Ihres Geliebten oder Ihrer Geliebten. Lesen Sie sie als Krankenbefund, und Sie werden der Wahrheit ins Gesicht blicken.

Was wäre also, wenn man Ihnen zum Beispiel die Ohren an den Arsch operieren würde? Einfach nur so, weils spannend und bewegend ist. Wäre das dann automatisch, wie es in dem Dossier heißt, ein heiterkomisch, emotionaler Vorgang: ein Arsch mit Ohren? Oder ganz einfach eine Katastrophe oder ganz einfach eine Tatsache, der Sie ins Gesicht blicken müssten? Ist das dann für Sie als Patient noch relevant oder einfach nur noch relativ, weil andere bereits den Arsch im Gesicht tragen?

Der ARD ist mittlerweile alles recht, um über ihr Siechtum mit sinnentleerten Floskeln wie relevant/interessant, lustig/modern, hinwegzutäuschen. Wir hatten das Thema schon in einigen Variationen, und Sie erinnern sich sicher noch an die von mir in Folge 1 versprochenen Tipps und Tricks, um noch schneller und konsequenter unter die Erde zu kommen. Ein Traum, den in Berlin fast jeder dritte so genannte Kulturschaffende träumt. Nichts ist schöner, als auf offener Bühne oder beim Verlesen der Nachrichten zu sterben. Möglichst in dem Moment, in dem man gerade von zahlreichen Todesopfern redet. Bei der ARD, so scheint es, träumt davon schon jeder zweite.

Verantwortlich zeichnet auch diesmal wieder ein verzweifelter Dr. Kellermeier der Chirurgie, der mir heute Morgen ein zweiseitiges Dossier übergab, das er angeblich mit seiner Mätresse erarbeitet hat. "Lesen Sie das! Das ist wichtig! Jetzt geht's bergauf, wir werden noch effektiver operieren als ZDF und RTL zusammen. Wir machen Programm ohne Visionen. Wir müssen an die Unterhaltung unserer Mitarbeiter denken. Wer ARD guckt, ist automatisch Zuseher und Macher zugleich. Mehr geht nicht, denn wo nichts ist, kann man auch nichts bemängeln!" Ich war begeistert. "Freiheit durch Freiheit" und "Widerstand durch Widerstand", rief ich Fritz Pleitgen (WDR-Intendant) entgegen.

Zu diesem Zeitpunkt wusste der noch gar nicht, was in seinem Laden vor sich ging, geschweige denn, wer dort überhaupt noch ansprechbar war. Pleitgen zitterte am ganzen Leib, die Medikamente zeigten ihre Wirkung. Morphium machte uns glücklich. Endlich waren wir eins mit den größten Verrätern deutscher Fernsehgeschichte: Kellermeier und Bonk. Eine Art Internetshow mit Rudi Carrell, so eine Art Resterampe mit Hilfsschulenattitüde.

Zitat vom Briefpapier des WDR: ". . . müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Stoff nicht sendbar ist."

"Den Stoff möchte ich sehen, der nicht sendbar ist", sagte Pleitgen, "erst auf Entzug werdet ihr verstehen, was ich hier durchmache. Erst im Krankenhaus weiß man wieder, wie schön es zu Hause war. Erst wenn man tot ist . . ."

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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