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INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.07.2000, Nr. 151, S. BS3 |
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Intensivstation
7. Zweiter Befund nach Wien: Gestern haben wir das Genom entschlüsselt. Mein
Zimmernachbar ist ganz begeistert. "Endlich kann ich meine Zukunft selber bestimmen,
das hat die Expo nicht geschafft." Ich wende aber ein, dass die Entschlüsselung des
Genoms letzten Endes auch so etwas wie die Entwertung oder völlige Entkapitalisierung von
Mord oder Attentat bedeutet. Ich weise darauf hin, dass es nun ein Leichtes sein wird,
alle Strafvollzugsanstalten mit Kapitalverbrechern zu öffnen, da ein Ermordeter
problemlos wiederholbar sei.
Merken Sie, wie sich die Begriffe gerade verdreht haben? Ein Ermordeter ist plötzlich
problemlos wiederholbar. Das heißt, seine Vorstellung ist schon vor dem Auftritt beendet.
Ein Traum der siebziger Jahre, den roten Knopf zum Weltuntergang zu besitzen, um ihn noch
vor dem Gegner zu drücken und somit wertlos zu machen. Versteht man das? Unsere
Patientenrunde schweigt.
"Ich will mein Leben selber in die Hand nehmen", sagt ein Lungenkrebspatient und
fällt nach hinten. Keiner kümmert sich um ihn. Die Umstände zum Überleben werden
härter, weil es uns ab sofort egal sein kann, ob jemand umfällt oder nicht. Wir geben
uns dem Taumel inhaltslosen und konzeptlosen Daseins hin. Wahlplakate tragen keine
Nachnamen mehr. Der Kandidat heißt nur noch Jürgen oder Joschka. Mehr ist nicht nötig.
Zur mystifizierenden Aufladung vielleicht noch eine Extremsportart und der Kanzlerkandidat
der Zukunft ist zubereitet. Möllemann macht's vor: Falschschirmspringen. Haben Sie's
gemerkt? Ich habe es nach dem Schreiben des Wortes gemerkt. Da steht nicht:
Fallschirmspringen, sondern Falschschirmspringen. Das heißt also, dass es tief in meiner
Seele doch den Wunsch nach richtig oder falsch gibt. Es muss also etwas geben, das mich
auf etwas Einmaliges hinweisen will. Ist es etwa die Angst meines Onkels, der mir momentan
finanziell weiterhilft und dem ich an dieser Stelle danken möchte? Ich glaube, dass er
geniale Momente besitzt.
Erst kürzlich hat er mir Unmengen Kombinationen der vier Basen der DNA vorgelesen, und
ich bin nicht eingeschlafen. Das Gespenst vom Lande sagt: Es sieht wie eine Marktlücke
aus, aber in Wirklichkeit beschreibt das nur den Kleingeist derjenigen, die auf
Oberfläche setzen. Oberfläche ist benutzte Grammatik. Aber was ich dir hier vorlese, das
ist die Freiheit, die sich erst an der Grenze zur Unfreiheit beschreiben lässt. Das ist
phänomenal, das ist unser Glück. Stell dir vor, was passiert, wenn du, lieber Christoph,
in 30 Jahren auf Menschen triffst, die doppelt so alt werden können wie du? Das wird
Bürgerkriege hervorrufen. Da steckt ein mögliches Kriegsszenario drin.
Ich nicke und schüttele den Kopf zur gleichen Zeit. Ein Pfleger will gleich helfen, weil
er auf einen epileptischen Anfall hofft. Den gab's in dieser Woche erst zweimal. Weit
gefehlt! Hoffnung ist beendet! Jetzt wird's ganz wunderbar konkret. Wehe dem, der so lange
leben muss.
Ich glaube nämlich, dass die innere Uhr ab 70 Jahren anfängt, aufs Finale zu hoffen, und
dieses Gefühl beruhigt mich. Außerdem stehe ich auf dem Standpunkt, dass derjenige, der
mit 70 oder 80 Jahren noch immer keinen Ansatz von Zufriedenheit kennen gelernt hat,
sowieso zum Abschuss freigegeben werden darf.
Unsere Sehnsüchte hier hinter den Krankenhausmauern zeigen jedenfalls, wie zufrieden wir
wären, könnten wir im Gegensatz zu vielen "Gesunden" für einen Tag auf die
Expo. Da hätten wir die Entschlüsselung der Zukunft direkt vor uns: ein Kabelstrang nach
dem anderen und hinter den Holzschnitzereien Beton. Ab und zu fällt dann einer in die
Tiefe, weil zehn Zentimeter fehlen, und die Einsamkeit zwischen den Bauten gibt einen
ersten Eindruck von der Einsamkeit des durchorganisierten Weltverbrechens. Und was ist
daran noch privat ?
Mein Vater hat jedenfalls heute Geburtstag, und ich möchte ihm an dieser Stelle
gratulieren! Du bist ein stolzer Mann, und zu sehen wie du mit deiner Erblindung umgehst,
zeigt mir, dass Entschlüsselung nicht vor einem, sondern in einem passiert. Zu deinem
76-jährigen Versuchslabor gratuliere ich dir von ganzem Herzen!
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
PS: Und nächste Woche beginnt das Leben. Lesen Sie dazu, wie ich fast von einer
Krankenschwester vergewaltigt worden wäre, wie sich ein Arzt vor unseren Patientenaugen
in den Mund geschossen hat und was Sloterdijk dazu meinte.
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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