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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.04.2001, Nr. 100, S. BS4


Intensivstation

33. Erster Bericht zur Hamlet-Inszenierung am Züricher Schauspielhaus: Hallo, liebe F.A.Z.-Leser, hier schreibt nach kurzer Pause Euer lieber Theaterclown Christoph.

Ist es nicht schön, zu wissen, daß es immer so bleibt, wie es ist? Seitdem ich das begriffen habe, geht es mir schon viel besser. Ich habe die Klinik verlassen, rase durch andere Städte und inszeniere voller Geduld und Hingabe den "Hamlet". Ein wundervolles Stück, und das meine ich wirklich ernst. Merkwürdig ist nur, daß ich mir das nicht schon früher zugetraut habe. Die Atmosphäre ist freundlich, die Darsteller sind liebevoll und intelligent. Selbst Peter Kern, der normalerweise nach zwei Probenstunden in die Pause will, sitzt bis zu fünf Stunden geduldig im 600 qm großen Probenraum des zweiten Zürcher Schauspielhauses, der für Zigmillionen errichteten neuen Spielstätte, dem Schiffbau. Ich wohne direkt neben Bibiana Beglau, die die Ophelia spielt. An ihrer Türe hängen Fotos, auf denen sie als Callgirl oder als Mieze aus Rainer Werner Castorfs Inszenierung "Zürich Alexanderplatz" zu sehen ist.

Neben ihrem Appartement lebt ein unbekannter Schauspieler, der immer das Licht anläßt, und daneben die immer wieder über sich hinauswachsende Irm Hermann. Und weil Irm die Königin spielt, stelle ich mir vor, ich wäre Rainer, eine Hand in der Hose, in der anderen die letzten vier Millimeter einer filterlosen Zigarette. Draußen schneit es, das Wetter ist eine Katastrophe. Aber tief in unseren Herzen gibt es das, was ich am Theater eigentlich so hasse, nämlich diesen komischen Willen zur Familie. Beim Film ist das alles noch verlogener als beim Theater. Hier in Zürich erfährt man wirklich was vom Fremdgeruch des anderen, über seinen Musikgenuß, seine Eßgewohnheiten, seine völlig zermatschte Fresse am nächsten Morgen usw. ...

Wir fahren dann alle mit dem Aufzug nach unten und gehen direkt in den Probenraum. Also kaum noch Kontakt nach draußen. Der Kopf wird weich, die Birne summt genüßlich den Text, der Rhythmus meines Hamlets ist der Rhythmus von Gründgens von 1962. Und dieser Sprachduktus ist ein ständiges Anklopfen, ob man noch mal so sprechen darf wie früher oder ob das nun endgültig vorbei ist. Und folgerichtig klopfe ich an. Ich frage Zürich und die nazifreie Schweiz, ob sie bereit ist für diese Sprache. Ob man die Kapitalflucht mit flüchtenden Naziverfolgten vergleichen darf oder ob das Theater abgeschottet und mit sich selbst zufrieden Aufzug fährt.

Marthaler ist mein Freund, ein Großteil der Fremdinszenierungen an seinem Haus sind gegenstandslose, pseudoaufklärerische Inszenierungen, die teilweise erst vor vier Jahren geschrieben wurden, aber schon jetzt wie ein Beitrag zur Mengenlehre klingen. Aber auch das neue Jelinek- Stück, das letzte Woche Premiere hatte, klingt abgestanden und sagt NEIN zum anklopfenden Reden. Und trotzdem ist das Niveau hier weit über dem eines normalen Stadttheaters und dennoch verklemmter als im "Alexanderplatz", obwohl es das verklemmteste Castorf-Stück seit Ewigkeiten war. Imposantes Bühnenbild, imposantes Sitzfleisch. Wie sagt der große Olivenölfabrikant Peter Stein: "Die Sprache und das Sprechen ist der entscheidende Charakter einer nationalen Identität. Sonst wird ja auch ununterbrochen versucht, etwas zu bewahren: Wale sollen nicht aussterben, und die Mücken dürfen nicht sterben", sagt er und verwechselt Theater mit Zoo. Ich habe den gesamten "Faust" auf Video mit dem Text verglichen und bin zu dem Schluß gekommen, daß fast jede Silbe gesprochen wurde, allerdings so falsch in der Betonung und im Rhythmus, daß man den Altnazis empfehlen möchte, sich Max Reinhardts "Über die Schauspieler" anzuhören und dann mal zu vergleichen.

Stein meint, er könne nicht mehr in Deutschland leben, weil die Herzen der Italiener größer sind. Und genau deshalb könnte ich nicht in der Schweiz leben. Hier sind die Herzen so klein, daß sie in jede Schweizer Taschenuhr passen und auf Kommando die Summe aus Leben und Effektivität errechnen können. Stein, geben Sie auf ! Sie haben meinen guten alten Freund Bruno Ganz auf dem Gewissen, dessen Bruder jeden Abend hier unten in der Kantine sitzt und Angst um ihn hat. Stein, Sie haben keine Ahnung von Sprachrhythmus, von Musikalität, von Schmerz durch mangelnde Selbstbewahrung. Sie verwechseln Selbstbewahrung mit Selbstmitleid. Nach Sucht kommt Selbstmitleid. Und deshalb bin ich erst mal süchtig, was man von Ihnen nicht mehr sagen kann. Für "Droge Faust" und "Droge Hamlet" gilt: Um zu bewahren, bedarf es einer wirklichen Vor-, Haupt- und Nachuntersuchung, und die sollte sowohl bei "Hamlet" als auch bei "Faust" musikalisch stattfinden. Da darf der Text auch mal verschwinden oder vertauscht werden, aber wenn er nur geklont präsentiert wird, dann ist er praktisch tot.

Soweit mein erster Beitrag zur 11. Nominierung des Theatertreffens. Ich würde Ihnen gern mehr über naziline.com. und über die Ankunft der aussteigewilligen Nazis am 1. Mai berichten, aber mittlerweile sind so viele neue junge, engagierte Journalisten zu uns gestoßen, daß wir auch ihnen die Möglichkeit geben müssen, Begriffe wie Theaterclown, Theaterberserker, Theaterkrawallo zu schreiben. Da lob' ich mir meinen neokonservativen Ansatz. Ich will dem Staate helfen. Denn hier und auch in der Schweiz ist etwas faul.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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