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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.12.2000, Nr. 302, S. BS6

Intensivstation

27. Rede eines ehrlichen Staatspräsidenten anläßlich der zweiten Jahrtausendwende in diesem Jahrhundert: Liebe Bürgerinnen und Bürger, liebe Wählerinnen und Wähler, liebe Sympathisantinnen und Sympathisanten. Erlauben Sie mir zum Jahresende ein paar verbitterte Worte zur Nichteinlösung aller Versprechen zum angeblichen Jahrtausendwechsel des letzten Jahres. Es soll uns allen besser gehen, hieß es, aber nur die Homoehe hat davon Profit getragen. Das Fernsehprogramm wurde um acht Kanäle erweitert, aus einem Frauensender wurde ein Fußballsender. Aus Idealehen wurden Fälle fürs Bundesverfassungsgericht, zukünftige Nationaltrainer wurden einer Schamrasur unterzogen, und selbst ehemalige Leitfiguren haben sich zur Selbstdemontage bereit erklärt. Es ist zum Verzweifeln! Das ganze Geschrei und Getanze vor einer sich verfinsternden Sonne hat nichts gebracht. Die Wurst bewegt sich wie von Geisterhand durch unser zukünftges Leben. Der Metzger hat unser Vertrauen verloren, die Zeit hat unser Vertrauen verloren, wir haben unser Vertrauen in unser Vertrauen verloren. Soll keiner mehr sagen, er wüßte noch, was ihn am Leben hält? Zwei Worte beschreiben alles, was uns noch geblieben ist: Hoffnungslosigkeit und Selbsttäuschung. Tanzende Menschen mit Ziegenbart bevölkern die Straßen, da wo früher noch Steine flogen, sitzen Menschen im Café und verweigern jeden Kommentar. Selbst das abfällige Weggucken ist verschwunden. Leander Haußmann wurde ausgebuht, und den Gerüchten nach steht Castorf auf der Peinlichkeitsliste unter den ersten 20. Einmal pro Woche droht er mit Rücktritt. Und wenn Peymann damit droht, dann ist es einem scheißegal. Der Mann spielt keine Rolle mehr. Nur Totgesagte leben länger, aber Scheintote trifft die Verachtung unserer ganzen Sympathie. Und deshalb heißt das Schlüsselwort der nächsten Jahre: Selbstdemontage. Die einen machen's aus Leidenschaft, die anderen aus Blödheit. Vergessen wir also den Jahrtausendwechsel, lassen wir uns nie mehr auf eine noch so kleine Illusion ein. Selbst das Genom hat schon verloren. Sein Angebot der unglaublichen Möglichkeiten ist so offensichtlich volksverhetzend, daß es aus jedem zukünftigen Gesellschaftssystem sofort herausoperiert gehört. Ein Leben ohne Genom. Ein leben ohne Illusion, ein Leben voller Selbstbeschmutzung. "Nagt an dir ein Gedanke, denk ihn weg" (Stirner). Schön wär's. Wir können nicht vergessen. Wir halten unsere Narben in die Kameras. Und jedem, der uns tadelt, geben wir zur Antwort: Schau nur aufs Ganze, die Wahrheit ist das Ganze, mag ein Teil auch mißgestaltet sein! In diesem Sinne: Begreifen Sie sich endlich als Teil vom Ganzen und Ihr mieses Gegenüber auch. Nur zusammen wird es ein Ganzes. Also sorgen Sie dafür, daß die ganzen Defizite im Steinewerfen und Zuschlagen wieder aufgefüllt werden. Beenden Sie Ihre Verbrüderungsstrategien! Wir wollen alle in ein Rettungsboot. Doch jetzt sollten wir anfangen, im Rettungsboot zu kämpfen. Kämpfen um die Mehrzahl der Ruder. Schluß mit den süßen, kleinen Umarmungen zu Silvester. Treten Sie endlich zu! Sie sind nicht mehr zu retten! Mit desillusioniertem Blick! Ihr zukünftiger Staatspräsident!

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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