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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.10.2000, Nr. 251, S. BS4

Intensivstation

21. Habe diese Woche meinen 40. Geburtstag gefeiert. Laut Statistik der DKV habe ich somit bereits die Hälfte eines normalen Männerlebens überschritten. Nach neuesten Erkenntnissen der Genomforschung gibt es aber schon bald keine Lebensmitte mehr. Der Mensch wird unsterblich, die ganze Qual mit der Midlifekrise ist endgültig vorbei. Meiner Erfahrung nach gibt es aber Midlifekrisen so gut wie jeden Tag. Es sind eigentlich Entscheidungskrisen, Selbstvertrauungskrisen, Identitätskrisen. Und die werden eigentlich jeden Tag gebraucht, um nicht schon zu Lebzeiten völlig zu erstarren. Ich weiß nicht, ob das alle auf meiner Geburtstagsfeier verstanden haben, aber warum redet die moderne Wissenschaft von Unsterblichkeit, wenn man nicht mehr mit durchschnittlich 73 Jahren stirbt, sondern erst mit 140 Jahren. Ich hatte Unsterblichkeit eigentlich mit einem Balken über dem Lebensalter verstanden. Nennt man Periode. Also z. B. Periode 76. Und Perioden sind schmerzhaft, berichten die Frauen. Einmal die Periode besiegen heißt nichts anderes, als auf den nächsten Monat zu warten. Da kommt die nächste Periode und somit der nächste Schmerz. Manche Frauen tragen deshalb kleine Chips an ihrem Gebärmutterhals. Dieser Chip hält ca. 5 Jahre und sondert soviel Hormone ab, wie zur Verhinderung einer normalen Schmerz- und Verlustphase notwendig ist. Vor allem die Frauen in Dänemark. Das ist sehr angenehm für Mann und Frau. In Deutschland setzt man lieber auf Pillen gegen den Schmerz, wenn er da ist. In Dänemark und auch in Österreich setzt man auf Chips, schon vor dem Schmerz. Was wäre also, wenn ich behaupte, daß eine Frau ohne diesen Schmerz keine Frau ist. Da würde Frau Dr. Schwarzer, die seit Jahren auf unserer Station arbeitet, von Rassismus reden, und ich wäre erledigt. Die gesamte Frauenstation wäre gegen mich, aber was soll ich tun, wenn ich Schmerz als zentrales Ereignis meines Daseins betrachte. Auch ich habe Periode. Ein Schmerz wirkt endlos. So kommt es einem jedenfalls vor. Und genau das ist der Fehler einer drohenden Unsterblichkeit. Selbst Jesus mußte mindestens einmal sterben, um wirklich zu zeigen, wer er ist. Und das war sein Glück. Glück gleich Schmerz. Kunst gleich Periode. Entwickeln wir also ein patiententaugliches Modell.

Kein Sloterdijk, kein Darwin oder Hagenbeckdirektor kann retten. Genomentschlüsselung bewirkt automatisch Genomverschlüsselung. Das ist das Problem. Nicht unseres! Wir feiern meinen Geburtstag auf der geriatrischen Station. Der Wachkomachor hat gesungen, die Hirntoten haben funktioniert. Gegen 20.00 Uhr besucht uns mein Vater. Er sitzt in einem Rollstuhl, hat seinen weißen Blindenstock zwischen den Beinen, die getönte Sonnenbrille auf der Nase. Eine Mischung aus Marlon Brando und Ceausescu, dahinter meine Mutter. Diese Bilder bleiben. Sie sind unsterblich. Das ist das, was ich meine. Periode Alter bringt gar nichts. Periode Bild ist alles. "Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal in einem Rollstuhl die Gangway entlangfahre", hat mein Vater gesagt, und meine Mutter wippt mit ihrem Stahlknie. Patentante Trude wird bald 80 und plant eine weitere Reise mit bergischen Landfrauen quer durch die Alpen. In der Hand ein Mikrophon und hinten am Bus ein Piano. Wagner hat es vorgemacht. Das letzte Bild ist entscheidend. Egal, ob der Flügel verstimmt in Venedig ankommt oder nicht. Es sind die Transportelefanten, die Töne des verstimmten Klaviers und die Ankunft im verregneten Venedig. Danach haben wir alle getanzt. Es sah aus wie in der besten Diskothek in einer Kommissarfolge aus den 70er Jahren. Die ganzen Bilder kamen automatisch zurück. Sie hatten sich ihren Platz bereits periodisch erobert. Das war alt und für viele Besucher völlig neu. "Lasset uns sterben!" haben wir alle gerufen, und auf den Bauch einer Hochschwangeren haben wir dann einen Super-8-Film projiziert, der mein Leben bestimmt hat: "Dick und Doof in der Fremdenlegion". Kaum einer wird das verstehen, aber die Tatsachen für so einen 40. Geburtstag liegen eindeutig auf der Hand: In einem 80jährigen Leben verarbeitet unser Gehirn so viele Daten, wie auf 71 428 571 428 670 000 Computerdisketten passen. Frauen werden im Durchschnitt 79, Männer 73 Jahre alt. Weitere periodische Informationen demnächst. Ich bin jetzt 40.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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