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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.09.2000, Nr. 216, S. BS3

Intensivstation

16. Für Jeanne d'Arc (Johanna von Orléans).

Dieser Text ist für eine Schauspielerin, die zweimal auf den Proben der Berliner Republik war. Aber es hat nicht geklappt. Sie war eigentlich gar nicht so schlecht, nur wir haben das alles nicht ganz so gesehen wie sie. Wir waren eigentlich die katholische Kirche. Jetzt hat sie sich umgebracht. Verbrannt. Nicht nur wegen uns. Genausowenig (aber auch), wie Herr Laux von Big Brother am Tod von Manu oder von Kerstin schuld hat. Und trotzdem stimmt da etwas nicht. Ich weiß noch nicht mal, wie sie genau geschrieben wurde. Ich würde sagen, sie wurde Franka Kastein geschrieben, spielte am Gorki die Lulu, und empfohlen hatte sie Carl Hegemann. Empfohlen zur Schlacht auf der Bühne. Da, wo alle Schlachten sowieso verloren sind. Auch wenn man nach dem ganzen Schwachsinn noch zum Theater des Jahres gewählt wird (siehe Hamburg). Ist doch alles am Ende. Sind alle am Ende, und sie wissen es sogar. Die, die es dann benutzen, sind okay, der Rest hat schlecht geleckt. Wie man es auf der Bettbühne macht, weiß die Kivin-Methode (http://www.kivinprod.com/allemand/index.htm). Kostet knapp 100 DM, und die Vorstellung kann beginnen. Haben alle Berliner Intendanten schon bestellt. So wie letzte Woche die Wunderpille GeneX zur Reduzierung von Körpergewicht.

Die deutsche Kunst braucht nämlich Schlankheit. Schlankheit durch Rückzug. Hin zum schnell Versteckbaren. Keine platzraubenden Einzelausstellungen mehr, sondern nur noch Gruppenausstellungen. Und natürlich Unmengen Geld. Sie glauben doch wohl nicht, Herr Stölzl, daß wir das letzte Woche ernst gemeint haben? Die Forderung nach Streichung der Subventionen war ihr ganz persönlicher Gentest, und den haben Sie leider verloren (zuviel Kivin geguckt). Sie rufen uns ständig an in der Klinik, wollen ein Gespräch, bitten um weitere konstruktive Vorschläge. Für wie blöd halten Sie uns? Die LKW-Fahrer machen es doch vor, und wir Patienten machen es nach! TOTALE VERWEIGERUNG ! Mehr als 50 Prozent aller Premieren der neuen Spielzeit werden wieder floppen. Und zwar nicht aus Unvermögen, sondern aus Protest. Protest wegen Kivin und GeneX . . .

Volksbühnenflops der nächsten Spielzeit: Elementarteilchen, Mary Poppins, Psycho und "Aus dem Leben eines Denkmals" (Castorf), Berliner Ensemble: Paris/Texas, Hänsel und Gretel, Die Todesfahrt der U3000 und die Schaubühne mit: Wurst 1 bis 10. Der Rest ist zu vernachlässigen, weil er einfach nicht mehr vorkommt. Genauso wie Franka Kastein, die sich umgebracht hat oder wurde, weil solche Extreme nicht erwünscht sind und nur noch konfektioniert vorkommen dürfen (z. B. bei Hartmann mit diesem langweiligen Orgelspieler). Ich habe diese Frau verleugnet. Ich bin dreimal um den Block gerast, weil ich keine Nerven hatte. Auf den Proben zur Berliner Republik haben wir sie gemeinsam ins Messer laufen lassen. Jetzt ist sie selber ins Messer gelaufen, oder vielleicht war es doch nur Zufall und das blödeste Theater von allen, das Gorki, weiß nichts Besseres als sie mit Lulu zu vergleichen. Vielleicht wäre aber die Jungfrau von Orléans besser gewesen. Nur leider haben die wahren Gegner gefehlt. Die Verteidiger Gottes waren zu sehr beschäftigt. (...) Ist alles sehr einfach geworden am Theater.

Irgendeinen Mist auf die Bühne bringen und dann die Kritiker anrufen (siehe Peymann). Da ist leider keiner mehr, der einen Quertext außer Kivin lesen will. Nur noch das Altherrengemurmel, wenn es um plattgesichtige Retortenbabys in hohen Schnürschuhen geht, die "so erotisch, so vulgär und so geschlechtsbereit" auftreten, daß es einem vorkommt, als habe Dolly Buster eine Filiale in der Volksbühne eröffnet. Die Sexualität im Krankenhaus ist ein Kapitel für sich. Wer duschen darf, hat Glück gehabt. Der Rest darbt vor sich hin und gibt sich Mühe, leise zu sein. Die Schmach gibt's kostenlos, und morgen kommt Kivin Haacke dann vorbei und sagt DEN PATIENTEN: "Wir machen eine Gruppenausstellung mit unserer Asche im Hof vom Reichstag." Kein schlechter Vorschlag; denn DER BEVÖLKERUNG gibt keinen Sinn. Das ist was für die Grenzdebilen unter den Abgeordneten. Und die sind in der Überzahl. Auch eine Form von Protest und ein leicht depressiver Unterton in diesem Kapitel für Franka. Sie ist tot, und wieder hat ein Extrem Berlin verlassen. Das ist schade, denn die gespielten Extreme haben wir satt. Kein Wunder, denn wie oft haben wir schon daran gedacht, daß unser Vater uns vergewaltigt hat, bloß damit das Puzzle einen Sinn bekommt. Geht Ihnen doch auch so, oder?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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