English Deutsch Argentina
Brasil Chinese Latvijas
Foto: David Baltzer
Operndorf Afrika (Remdoogo)
Oper
Installation
Theater
Film
Aktion
Hörspiel
Fernsehen
Kolumnen
Atta-Kunst
INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
23 24 25 26 27 27b 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43



Neue Seite
Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.06.2000, Nr. 134, S. BS4

Intensivstation

5. Der Arzt spricht von Besserung, warnt aber vor einem Rückfall, sollte ich auf einer Verlegung nach Wien bestehen. Dabei wäre doch ein Rückfall ein wirklicher Rückschritt und das Gegenteil von Rückfall wäre ein Vorfall. Ein Vorfall ist aber eigentlich auch ein Rückschritt (siehe Bandscheibe). Man kommt so oder so nicht von der Stelle. Der Körper zerfällt auch ohne Rückfall. Und es gibt sogar Fälle, wo ein Rückfall den körperlichen Zerfall aufhalten konnte. So gelang zwar einigen Karrieristen seit Beginn der Berliner Republik ein schneller Aufstieg (z. B. im Bereich politisches Theater), aber der zu schnelle Aufstieg brachte folgendes Problem: Das Gehirn konnte nicht mitwachsen. Der Körper war topfit und auf Erfolg getrimmt, aber das Gehirn verweigerte die Gefolgschaft. Bei langsamen Karrieren, vergleichbar mit gutartigen Geschwülsten, besteht eine absolute Einheit von Geist und Körper. Diese Menschen sind stabil und leben länger. Ich appelliere also an alle Gesunden, sich der lebensverkürzenden Euphorie entgegenzustellen und es mal mit einer lebensverlängernden Krankheit zu versuchen. Das Motto aus früheren Tagen: Wir sind gesund und ihr seid krank, gilt nicht mehr. Nur der Kranke verlängert sein Leben.

Ein wunderbares Motto für eine Reise nach Österreich. Die Luft im Wagen ist miserabel. Zwischenstation in Prag, dann ohne Pause weiter und nach 14 Stunden bewusstlos in Wien. Mein Zustand hat sich verschlechtert. Wieder ein paar Jahre dazugewonnen. Der Empfang ist mäßig. Die ersten zwei Kliniken verweigern die Aufnahme. Hermann Nitsch vermittelt. Ich bekomme ein Zimmer mit Ausblick, vor mir die Oper. Davor ein hässliches Containerdorf. Eine Unverschämtheit.

Der erste Kontakt zu anderen Patienten verläuft besser als erwartet. Fast alle sind eigentlich gesund, haben sich aber auf eigenen Wunsch hier einliefern lassen. Die politische Situation habe sie dazu gezwungen. "Wer jetzt noch etwas retten will, soll sich erst mal selber retten", sagt mein Zimmernachbar, ein ehemaliger Stadtrat. Gerade in Wien gibt es genug neue Menschen, die sich auf eigenen Wunsch operieren lassen, l'art pour l'art als politisches Kampfmittel.

Danach Rekonvaleszenz und anschließend die nächste Operation. Auf eigenen Wunsch! Das ist radikal, das ist wirklich revolutionär. Wer sich nicht selber revolutioniert, kann nichts verändern. Wer sich verändert, ist krank und darf an unserer OP-Gruppe teilnehmen. Jede Woche muss einer die Klinik verlassen. Diesmal trifft es einen Trinkhallenbesitzer aus dem 6. Bezirk. Nur noch ein Bein, eine Niere und ein sehr unregelmäßig schlagendes Herz. Doch Herr Unterreiner ist voller Freude. Mit schwacher Stimme erzählt er von seiner Wohnung, von der gemütlichen Sitzecke und dem Wannenaufzug im Bad. Wir bringen ihn zur Türe, Unterreiner fährt davon. Ich verrate sicher nicht zu viel, wenn ich schon jetzt erzähle, dass Unterreiner nicht mehr zurückgekehrt ist. Als er seine Wohnung betrat, war diese bereits leer geräumt. Unterreiner ist an einem Heulkrampf erstickt. Die Verwandtschaft hatte ihn schon lange vorher aufgegeben.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main





Weitere Beiträge und Kolumnen von Christoph Schlingensief

- INTENSIVSTATION (43 Beiträge) (FAZ, 2000/2001)
- DIE FLEISCHWURST (Süddeutsche, 2001)
- WO IST GOTT? (Tagesspiegel, 27.01.02)
- DEUTSCHLANDMUTTER - Zum Tode von Hildegard Knef (DIE ZEIT, 07.02.02)
- DEUTSCHLAND MUß HÄRTER WERDEN (Zitty Stadtmagazin, 20/02)
- POLITIKERENTSORGUNG (Tagesspiegel, 21.09.02)
- THEATER IHRES VERTRAUENS (Theater heute, 1/03)
- AKTION 18-TAGEBUCH (Süddeutsche, 24.-28.06.02)
- SCHONEN SIE IHRE WÄHLERSTIMME! (TV Spielfilm, 42/02)

Mehr von Schlingensief

- Weitere Kolumnen
- Biographie
- Newslog
- Presse
- Schlingensief Shop