Intensivstation

17. Europa wird das Land mit den meisten befreundeten Feinden der Welt. Kein Widerspruch, sondern die logische Folgerung aus den Querelen der letzten Woche. Auch mein Arzt ist mein Feind, obwohl er mir angeblich hilft. Aber Angeblichkeit ist der Anfang der Eitelkeit. Bin ich eitel, wenn ich meinem Arzt mißtraue, oder ist mein Arzt mein Feind, weil er zu eitel ist, um zuzugeben, daß er mir nicht mehr helfen kann?

Mein Vater sagt: Wer mich als Freund hat, braucht keine Feinde mehr. Das ist einfach die Konsequenz aus 76 Jahren Lebenserfahrung. Es gibt einfach keinen besseren Freund als ihn; denn er fühlt sich jedem Feind aufs heftigste verbunden. Jeder Feind gibt ihm Kraft, gibt seinem Schaffen Sinn, und genau deshalb braucht er keine Freunde mehr, denn minus mal minus gibt plus. Und außerdem ist "der beste Freund eines Menschen sein Kopf", sagte die berühmte Terroristin Ensslin, von der Alexander Kluge noch Totenbettaufnahmen besitzt, die er niemals zu benutzen versprochen hat. "Und deshalb sollte diejenige, die unten offen ist oben zu sein", sagt Volker Spengler, der sich demnächst scannen lassen will, um der erste Schauspieler der Welt zu sein, der sich im Internet komplett zur Verfügung stellt. Dann kann man Spengler mischen, seine Stimme auf die eines 7jährigen Spenglers zurechtbasteln und endlich ein Remake von "In einem Jahr mit 13 Monden" drehen. Das wäre ein Stoff für Oskar Roehler. Elsner als Elvira. Spengler als Caven usw. . . . Alles ist möglich. Ich schwebe! Langsam gleite ich durch die Station und blicke den Streikposten der Lkw- und Taxifahrer ins Gesicht. Wenn Sie sich erinnern, dann habe ich bereits vor zwei Wochen an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß das Ende der SPD bevorsteht. Der DDR- Schröder ist wieder in Europa gelandet. Der Dax fällt. Ron Sommer entläßt seine ganzen Trickfilmfiguren, und auch sonst rüsten die Cowboys zum Angriff. Kampagnen und Aktionen, wohin man blickt. Selbst die Richter werden immer verkniffener, und die vielen Feldjäger, die man nicht mehr "Waschbrettkopf und Kettenhund" nennen darf, ziehen durchs Land und vergessen in ihrer Eitelkeit völlig, wie viele junge Männer sie beleidigt haben, als sie ängstliche Knaben aus ihren Bettchen zogen, um sie zum Schutze Scharpings einzusetzen. Europa ist eitel und soll über Faulheit hinwegtäuschen. Doch Faulheit rettet Menschenleben. Über 78 Prozent weniger Verkehrstote seit Beginn der Streikwelle. Das sind über 42 000 Menschen, die Ende des Jahres noch immer in Europa leben, obwohl das die Europäische Gemeinschaft nicht vorgesehen hat. Ein riesiges Finanzloch. Es sei denn, die Bahn hilft mit weiteren Eschedes und die Flugzeugindustrie mit der Concorde. Das rettet den Schritt, das schont die Kassen, wie eine von führenden Versicherungen in Auftrag gegebene Untersuchung zeigt. Und diese Untersuchungen liegen im Europäischen Parlament. Kein Wunder, daß es plötzlich Streikposten vor unserem Operationssaal gibt, die von jedem Patienten einen Groschen pro Stunde als Heizkostenzuschlag fordern. Streikposten, die hier keiner von uns kennt und die hier noch nie operiert wurden. Wildfremde Streikposten, die uns die Heizung absperren. Zwei Patienten sind schon erfroren, zwei weitere wurden mit starken Erfrierungen in den Heizungskeller geschafft. Einer von ihnen ist dann am selben Abend mit seinem Pkw in den Reichstag gerast, um sich und dem Reichstag einzuheizen. Zum Glück hatten zwei Parlamentarier keine Erde für "die Bevölkerung" mitgebracht, sondern zwei riesige Findlinge, die Thierse direkt vor die Eingänge tragen ließ. Eine Aktion, hinter der angeblich Müntefering steckt, der einen Wassergraben mit Zugbrücke um den Reichstag plant: außen Befestigungsanlagen und innen Parlamentarier mit "der Bevölkerung".

Der Reichstag heißt dann "Deutschland Stunde Null" oder "System 1". Außen Streikposten. Das ist "System 2" oder Armut vor dem Sturm. Aber das hatten wir schon mal.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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