|
|
|
|
|
INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.2001, Nr. 24, S. BS3 |
|
Intensivstation
29. Ich hatte heute nacht einen merkwürdigen Traum. Die Ärzte hatten beschlossen, daß
wir die Tabletten nicht mehr schlucken sollten. Statt dessen sollte unsere Stirn durch
einen acht Zentimeter langen Schnitt geöffnet werden. In diesen sorgfältigen Schnitt
kamen dann die kleinzerhackten Tabletten. Dazu riefen wir: "Durch die Stirn direkt
ins Gehirn - Durch die Stirn direkt ins Gehirn." Es klang wie ein Schlachtruf. Auf
den Gängen standen Verkehrsschilder mit der Aufschrift Umleitung. Dazu dieser kraftvolle
Schlachtruf: "Durch die Stirn direkt ins Gehirn." "Fahr keine Kurven",
sagte meine Großmutter immer zu meinem Vater, wenn wir von Wipperfürth aus zurück nach
Oberhausen aufbrachen. Also keine Kurven mehr, sondern direkt gegen den Baum. Auch keine
Umwege mehr, sondern direkt nach Hause. Nach Walhalla. Siegfried heißt nun Hamlet.
Normalerweise schreibe ich Hamlet mit zwei tt. Und in der Tat, wenn man darin das Stilett
verborgen sieht und damit geistige Schärfe assoziiert, muß man einige Theaterleute, wie
zum Beispiel Peymann, davon unterscheiden: Sie handhaben stumpfsinnig das Stilett als ein
ihnen äußeres, fremdes an ihrer Stirn. Ihr Kampf für Klarheit ist eine verlogene Form,
die sie exhibitionistisch-originalitätssüchtig mit sich aufgegossen haben. Sie halten
eine abstrakt-formelle Schnur in Händen, warten wie die an den Felsen gekittete Muschel
darauf, was der Zufall ihnen zuführt, um sogleich auszuhöhlen, was ihnen begegnet, und
es aufzureihen in ein gleichgültiges Vielerlei, das nur durch ihre Person äußerlich
zusammengehalten wird.
Und wenn sie Adorno erwähnen, so sollten sie bedenken, daß er positiv an Hegels
Ästhetik anknüpft, deren aufgestelltem Kunstideal sie mit ihrer ordinären
Ausgelassenheit, Haltungslosigkeit auf Abruf und ihrem hohlen Pathos nicht entsprechen.
Sie sind nur ein armseliges Kind einer armseligen Zeit. Ganz im Gegensatz zu Siegfried
Lattka, seines Zeichens Vertreter der berühmten Schmidtsdorffer Elektromotoren aus
Alt-Moabit. Dort gibt es für jede Gelegenheit den passenden Motor: Gleichstrommotoren,
Getriebemotoren, Generatoren, Ex-Motoren und Kleinstmotoren. Dieser Siegfried Lattka zeigt
uns die Stirn, hat im Blut des Proletariats gebadet und ist genau an der Stelle
verwundbar, an der ein Aktienpapier auf seinem Rücken klebte. Lattka schrieb zum Thema:
Mord und Totschlag im Fernsehen und Theater:
"Sehr geehrte Damen und Herren, mit meiner Frau erlebte ich am Sonnabend, dem 13.
Januar, um 20.15 Uhr den ersten Fernsehabend im Jahr 2001. Wir sahen im ersten Programm
Volksmusik. Eine schöne, entspannende Sendung. Meine Frau ruft mir zu, auf den anderen
Sendern ist nichts Gescheites drin. Ich verschaffe mir einen Überblick über die ersten
14 Sender der Fernsehzeitung TV14. Ich bin zutiefst erschüttert. Von den ersten 14
Sendern bringen 9 Sender Mord und Totschlag. Die anderen fünf Sender holen ihre fehlenden
Mord- und Totschlagsendung gegen 23.00 Uhr nach. So ist das 100% Fernsehsoll von Mord und
Totschlag erfüllt."
Herr Siegfried Lattka hat nicht nur dem Fernsehen in seiner ganzen abstrakten Form den
Kampf angesagt, sondern auch dem abstrakten Sterben am Theater. Siegfried fordert in
Zusammenarbeit mit seiner Frau und einem klaren Blick für Verwundbarkeit die sofortige
Realisierung abstrakten Sterbens. TV14 und alle anderen Fernsehzeitschriften, sämtliche
Fernsehsender, Moderatoren und Theaterleute, sollten ihre eigene Fäulnis nicht mehr durch
Bollwerke verdecken, die abstrakte Fäulnis vortäuschen. Nein! Hier geht es um die
bewußt gewordene Fäulnis der eigenen Person. Siegfried Lattka weiter: "Wo sind die
Verantwortlichen - die Mächtigen?" Das ist eine Anfrage, ein Aufschrei! Ein
Aufschrei einer Einzelperson? - Nein: Ein Aufschrei stellvertretend für Millionen.
Sie haben keine Zeit, sich damit zu beschäftigen? "Ich auch nicht", sagt
Siegfried Lattka, "die Volksmusik geht nun zu Ende - es ist 22.30 Uhr. Ich habe die
Sendezeit für diese Zeilen genutzt. Was tun Sie gegen diese BSE-Seuche der Seele? In
besorgter Verbundenheit, Ihr Siegfried Lattka." Was wir dagegen tun? "Wir sind
das ewig verjüngende, das ewig schaffende Leben! Wo wir nicht sind, da ist der Tod! Wir
sind der Traum, der Trost, die Hoffnung des Leidenden! Wir vernichten, was besteht, und
wohin wir wandeln, da entquillt neues Leben dem toten Gestein. Wir kommen zu Euch, um zu
zerbrechen alle Ketten, die Euch bedrücken, um Euch zu erlösen aus der Umarmung des
Todes, und ein junges Leben durch euere Glieder zu ergießen." Aus: "Richard
Wagner antwortet Siegfried Lattka."
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weitere Beiträge und Kolumnen von Christoph Schlingensief
|
|
|
|
|
|