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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.10.2001, Nr. 236, S. BS3

Intensivstation

43. Auf Bitten vieler Leser der Jungle World oder anderer alternativer Blätter möchte ich meine Bemerkungen zum "Fall Stockhausen" weiter ausführen und um die Problematik unserer Religionszugehörigkeit erweitern.  Die Behauptung Stockhausens, der Terroranschlag gegen Amerika sei das größte Kunstwerk aller Zeiten, hat diejenigen auf den Plan gerufen, die sich selber als Fachleute für Sauberkeit verstehen. Die Zeit-Stiftung sagt: "Sofort verbieten", die ehemalige Kultursenatorin Weiss verliert die Sprache, und die Allgemeinheit ist entsetzt. Stockhausen steht somit für das Jesusprinzip. Das Prinzip, dem Größten das Größte entgegenzusetzen und somit innere Beschmutzungen nach außen zu transportieren. Die Verbotsfreudigen stehen hingegen für das Mohammedprinzip: das Höhere gegen das Niedere, Dar-al-Islam gegen Dar-al- Harb.  Jesus ruft: "Mein Gott (Vater), warum hast du mich verlassen." Hätte er den Mund gehalten und die letzten Stunden durchgehalten, wäre er unbefleckt, superrein und unangreifbar gen Himmel gefahren und ebenso toll wieder auferstanden. So aber hinterließ er in mir schon in jungen Jahren die Frage, warum wir Christen einen Mann verehren, der eigentlich genauso menschlich unvollkommen ist wie wir selber. Erst in späteren Jahren, als immer mehr Gutmenschen geboren wurden, die schon zu Lebzeiten von ihrer "ganz persönlichen Göttlichkeit" überzeugt waren, wurde mir klar, daß man die Dinge immer von zwei Seiten sehen muß. Jesus war nicht bereit, die Heuchelei der Gutmenschen mitzutragen und schon zu Lebzeiten so zu tun, als wäre er göttlich. Nein! Jesus beschmutzte sich in seinem Vorwurf gegen Gott und wurde somit menschlich. Betrachtet man Mohammeds Leben, so erscheint einem Jesu' Leben wie der ständige Versuch, möglichst unbefleckt davonzukommen. Er umgibt sich zwar mit Aussätzigen, sogar einer Prostituierten, aber im Kern durchlebt er im Kontakt mit soviel Schmutz die Reinigung, die ihm die Möglichkeit gibt, göttlich zu wirken und im besten Falle sogar zu sein. Mohammed hingegen überfällt Karawanen aus Mekka, kann ein mekkanisches Ersatzheer zurückschlagen, zwingt jüdische Stämme der Kainuka und Banu-Nadir durch Belagerung zur Auswanderung nach Chaibar, wechselt die Gebetsrichtung von Jerusalem nach Mekka und richtet ein Massaker am jüdischen Stamm der Banu-Kuraisa an. Zum Schluß wird die Welt noch eingeteilt:  - Dâr-al- Islam (Welt des Islam) und - Dâr-al-Harb (Kriegsgebiet). Entweder - oder. Himmel und Hölle. Auch das kommt mir bekannt vor. Es gibt also zwei  Methoden der Beschmutzung. Die Jesusmethode beschmutzt sich durch die Infragestellung des Höheren, um sich bis ans Lebensende davon reinzuwaschen. Das Mohammedprinzip reinigt sich im Kampf gegen die Ungehorsamen. Es beschmutzt einen anderen Menschen, beschmutzt sich somit selber und wird dadurch wieder rein. Minus mal minus gleich plus. Im Christentum hieße das, minus mal minus gleich minus gleich plus. Die Frage ist also: Welchen Aufzug sollen wir benutzen? Den Jesus- oder den Mohammedaufzug oder lieber den Paternoster, weil da beide Seiten einmal rauf- und später wieder runterfahren müssen? Ist das dann der Himmel und das Problem gelöst? Fährt man herunter, wird man wieder Mensch, fährt man herauf, dann ist man gereinigt. Da man aber jederzeit wieder aussteigen kann aus dem Paternoster, ist auch der Auferstehende beschmutzt und der Höllentaucher erlöst. Das nur nebenbei. Ich denke aber, so bekommen wir das Problem in den Griff. Jesus starb rein; bis auf diesen grandiosen Ausrutscher am Ende, Mohammed überanstrengt, mit glühenden Augen, im Kampf gegen Juden und Christen. Jesus hätte weich und wippend vermittelt, Mohammed hätte das Schwert genommen und ihm die Birne abgeschlagen. Und beide haben recht! "Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zum Fressen, bitte sehr - und wenn er nichts zu fressen hat, dann ist er auch kein Mensch mehr." Wird er gefressen, so redet man von Läuterung. Frißt er sich selbst, dann reden wir von Beschmutzung. Ich plädiere für das Recht auf Selbstbeschmutzung! Der Irrtum des Christentums und Judentums ist die zwanghafte Vermittlung, man müsse rein und edel sein, um Mensch zu werden. Ganz im Gegenteil, liebe Jesusverächter! Dann dürften die Mohammedaner auch kein Schweinefleisch mehr essen, obwohl mittlerweile fast jeder Nomade einen Kühlschrank besitzt. Natürlich dürfen sie kein Schweinefleisch essen, aber auch das ist genauso unzeitgemäß wie der Blödsinn vom gereinigten Menschen. Ich habe meiner Beichte nie getraut. Auch keinem Spender in der Kirche, überhaupt trau' ich keinem mehr seit diesem 11. September, der behauptet, er könne nicht verstehen, daß man Andersdenkenden den Kopf abschlägt und gleichzeitig von Frieden redet. Die Dinge haben sich verbunden. Das Vordere schwimmt plötzlich hinten und das Hintere schwimmt plötzlich vorne. Der Vater liebt den Sohn und nicht der Sohn die Mutter! Raum und Zeit wurden durchdrungen! Nichts anderes sagt Stockhausen. Jetzt geht's den Göttern an den Kragen. "Runterholen, runterholen", ruft Jesus Mohammed Siegfried! Gott Allah Wotan sind an der Reihe! Einmal Paternoster, aber nach unten, bitte. Dort, wo man sich beschmutzen muß, um endlich Mensch zu sein. Das ist ausgesprochen reinigend! Für beide Seiten!

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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