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INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.06.2001, Nr. 132, S. BS4 |
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Intensivstation
35. Immer mehr Menschen werden von Headhuntern gejagt. Hätte nie gedacht, daß mir so
etwas auch einmal passieren würde, aber lassen Sie mich kurz berichten. Es begab sich
nach unserer achten ausverkauften Hamletvorstellung in Zürich, daß mich nach dem
zwanzigminütigen Jubel gleich hinter der Bühne ein Mann um die Fünfzig ansprach. Er
hätte großes Interesse, mit mir ins Gespräch zu kommen. Ich bat ihn, kurz zu warten,
duschte und kam dann verhältnismäßig gutgelaunt in das vereinbarte Mövenpickrestaurant
gleich unten im Pfauen.
An Tisch 36 ging es dann zur Sache. Ob ich schon einmal daran gedacht hätte, meine
Position zu verbessern. Ob ich wüßte, daß ich ein Mann in den besten Jahren sei und es
keinen Grund gebe, ein Leben lang bei dem zu bleiben, was ich mir einmal vorgenommen
hätte. Und ob ich Lust hätte, das Zehn- bis Zwanzigfache zu verdienen. "Ja",
antwortete ich, daran hätte ich auch schon mal gedacht. Aber das würde auch bedeuten,
daß ich zehn bis zwanzig Inszenierungen im Jahr machen müßte, und das könnten nur
Genies wie Peymann, Castorf, Marthaler, Bachmann, Bondy, Zadek, Ostermeier, Bosse,
Richter, Pucher, früher auch Hausmann. Oder ewige Aufführer wie Westerwelle, Merkel,
Schröder, Koch und Feldbusch. Ich wäre froh, wenn ich einmal im Jahr eine Idee verfolgen
dürfe, die zur Klärung marktwirtschaftlicher Prinzipien diene. Der Rest sei Schweigen
oder zumindest ein leises Schnarchen, denn das Bett liebte ich sehr, und mein
Allgemeinzustand sei eher depressiv-müde. Mein Gegenüber war begeistert. "Genau so
einen suchen meine Auftraggeber!" quetschte er aus seinen elfenbeinfarbenen
Jacketkronen. "Wir suchen eine Person, die gerne schläft, um dann im ausgeschlafenen
Zustand schnell und möglichst präzise für soviel Unordnung zu sorgen, daß andere
mehrere Monate mit den Aufräumarbeiten beschäftigt sind."
Jetzt verstand ich, wer mir da gegenübersaß. Schon aus meinen letzten Recherchen zur
Prostitution im alten Florenz wußte ich, daß zahlreiche Prostituierte von Pornohuntern
abgeworben werden. Vor allem in Zürich gibt es dieses Phänomen: Die prall gefüllten
Pornoanzeigen in der NZZ zeigen, wie schnell solche Abwerbungen vor sich gehen. Vier
Teenies, die extrem gute Zungenspiele anboten, waren in nur einer Woche unter vier
verschiedenen Telefonnummern zu erreichen. Ein einmaliges Paar - "sie ganz besonders
oralgeil" - gab offenherzig zu, von 9 bis 12 Uhr unter einer Baseler Adresse zu
schmusen und ab 15.00 Uhr direkt neben dem Züricher Rathaus, der geheimen Lustmeile am
See. "Mit Sex habe ich nur privat zu tun", antwortete ich. "Ich könnte
nicht, auch nicht für Geld, mit fremden Frauen oder Männern Zungenspiele oder ,Massagen
zum Verlieben' durchführen." Egal, ob sein Team diskret und gepflegt sei, egal ob
zart oder hart, ob anderer Leute Träume wahr werden oder Doktorspiele mit hemmungslosen
Reizen gefordert würden, ich könne so etwas einfach nicht. Ich würde mich ekeln. Einem
nackten kopulierenden Ehepaar etwas von Nietzsche vorlesen, vielleicht. "Nein,
nein", rief der Jäger. "Sie haben mich komplett falsch verstanden. Kein Mensch
will Sie in ein Bordell abwerben. Es geht um Theater, die erotischste Form der
Erotik." Von diesem Moment an wußte ich, daß der auch seine Familie im Internet
anbieten würde.
Theater war noch nie erotisch. Die höchste Form des Theaters ist der Gewaltakt. Das
schreie ich jetzt jeden Abend in Zürich, bevor ich dann den Königsstuhl zerschlage und
mit einem Stuhlbein zwei bis drei Zuschauer verletze. Der unverletzte Teil des Publikums
applaudiert dann bis zur Ekstase, und meist kommt dann der Inspizient mit einem Stock, und
ich muß von der Bühne. Aber Theater ist nur dann gut, wenn es die Gewalt dieser
schrägen Veranstaltung zum Ausdruck bringt. Habe mir deshalb Rosmersholm von Zadek
angeschaut und gesehen, wie es ist, wenn so Schauspielstars wie Peter Voss oder Gerd
Winkler und Angela Fitz sämtliche Formen von Freiheit ablegen und sich voll und ganz auf
die Rolle einlassen. Großes Kompliment. Das war wirklich ein erotisches Abenteuer, das
tabuloseste Sexvergnügen der letzten Jahre, mit hemmungslosen Reizen bis zum bebenden
Höhepunkt! Nicht mal ein Anflug von Gegenwartsbezug war notwendig, um den Voyeuren einen
Taschenspielertrick vorzuführen.
Ein Schlag auf den Tisch, die Gläser zitterten, ich griff den Kragen des Jägers und
sagte mit ruhiger, schneidender Stimme: "Bei dir oder bei mir?" Der Mann aus
Kurpfalz begann zu schwitzen und fragte mich, ob ich die Bombardierung Hamburgs gemocht
hätte. Ich bejahte, gab aber auch zu verstehen, daß ich den direkten Zusammenhang nicht
ganz verstand. Nun bekam ich eine Postkarte mit einem äußerst berühmten Theater im
Hamburger Raum überreicht. Ich bekam glänzende Augen. Das Zehn- bis Zwanzigfache
verdienen. Das würde bedeuten, wenn ich jetzt pro Inszenierung im Durchschnitt 1600 Mark
bekomme, dann wären das demnächst bis zu 32 000 Mark. Nicht schlecht. Langsam lehnte ich
mich zurück und runzelte die Stirn: "Ich denke, es geht um Stromberg."
"Ja, genau, Sie haben es erfaßt."
"Mh", antwortete ich, "Ich mache mir nichts aus Geld, weil ich schon viel
zuviel davon habe. Meine Hauptgelder verdiene ich mit sogenannten Pennystocks. Das hat mir
Harald Schmidt beigebracht. Außerdem bin ich an einer Teppichfabrik in Bangladesch
beteiligt und besitze eine Apfelsinenplantage in Namibia." "Ich wußte, daß Sie
ein Idealist sind." Ja, ich bin tatsächlich einer. Und deshalb möchte ich es mir
eigentlich nicht mit Peter Iden und C. Bernd Sucher verscherzen, die auf ihre alten Tage
gerade bei Stromberg die Jugend für sich neu entdeckt haben. "Schöne
Steppenwölfinnen, bürgerlich verkleidet, aber trotzdem ungezähmt. Theater fatale,
sinnlich, schön, elegant, charmant, diskret, unprofessionell flexibel." Ich glaube,
ich mache den Job.
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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