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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.2001, Nr. 226, S. BS3

Intensivstation

42. Die Größe eines Kunstwerks entscheidet der Markt, rast es in meinem Kopf. Gelesen in irgendeinem Kunstschmierblatt. Von daher hätte Karlheinz Stockhausen recht. Wahrscheinlich hat er sogar recht, nur leider haben die Zeit-Stiftung und die Hamburger Kultursenatorin Weiss diesen Gedanken zu früh unterbrochen und somit wieder mal klargestellt, daß Kunst immer noch mit Pädagogik verwechselt wird. Kunst soll vermitteln, aufklären, klug sein und die Menschen verändern. Daß Kunst aber auch unverständlich, ungerecht, unmoralisch und zum Teil auch "menschenverachtend" sein kann, hat sie immer wieder bewiesen. Die Frage ist nur, hat sie sich dabei auf Kosten Tausender Opfer verwirklicht oder hat sie sich selber zur Diskussion gestellt?

Die 90er Jahre Kunstfibel sagt: "Künstler sind hochsensibel! Künstler reagieren stärker als dumme Menschen. Sie können Signale aufnehmen, die dummen Menschen verborgen bleiben. Um wirklich Kunst zu machen, muß der Künstler die von ihm aufgenommenen Signale so weit verstärken oder transformieren, daß das Kunstwerk größer ist als der dumme Mensch, der es betrachtet. Ein guter Künstler ist ein Künstler, der ein Kunstwerk schaffen kann, das größer ist als er selbst. Ein Politiker ist auch sensibel. Doch seine Kunst besteht darin, eigentlich genau das Gegenteil zu erzeugen. Nämlich kein Kunstwerk! Kein Kunstwerk darf größer sein als der gemeine Politiker. Ein Politiker muß genauso klein bleiben wie das, was er entwirft, weil er sonst nicht verstanden wird und somit nicht wählbar ist. Zu einem Politikerwerk darf man nicht aufschauen! Man muß es neben sich haben, es in sich spüren. Erst dann kann es seine Wirkung zeigen und den Dummen stärken." Und schon wieder hätte Stockhausen recht. Stockhausen ist so sensibel, daß er nicht zur Tagespolitik zurückkehren will. Er sieht in seiner Äußerung zu den Terroranschlägen in Amerika ("Daß Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos.") die Möglichkeit, die Raum- und Zeitdimension einer selbstverliebten Gesellschaft zu durchbrechen. Dadurch überhöht er unsere Ängste und erzeugt somit ein neues Kunstwerk, was natürlich an der Vermittlung der Politik und ihrer Journaille scheitert.

Was also hat Stockhausen nun gemeint? Wollte er provozieren oder wollte er ganz einfach nur klarstellen, daß es eine "große Kunst" war, eine solche Macht auszuüben, daß die, die mit dieser Macht handeln, die Grenzen ihrer Macht erkennen? Machen wir den Test und ersetzen Kunstwerk durch den Begriff Gemälde, so können wir plötzlich alle von einem guten oder schlechten Gemälde reden. Noch nie gab es ein Gemälde, das alles andere in seiner Umgebung in Raum und Zeit so durchdrungen und inflationiert hätte wie dieser Amerika-Crash. Je größer das Kunstwerk, desto kleiner der Betrachter. Heutzutage sitzt der Künstler hinter dem Kunstwerk, und die Verantwortlichen sorgen dafür, daß man ihn nicht belästigt, damit der vermeintliche Wert nicht durch das Gefasel des Künstlers abnimmt. Im Falle des Amerika-Crashs will man aber den "Künstler" suchen, damit man zeigen kann, daß das keine Kunst war. Somit haben wir es also mit zwei Welten zu tun. Die eine, ich nenne sie mal Riefenstahl-Welt, beruft sich auf Kunst, weil somit alles gerechtfertigt werden kann, was normalerweise zum Todesurteil führen würde. Die andere Welt, ich nenne sie mal Zeit-Stiftung- oder Weiss-Welt, will die gute alte Lüge, Kunst sei gut und somit edel, für sich monopolistisch durchsetzen. Beide Welten haben ihre Nachteile. Die eine wäre ein Freibrief für alle Mörder, die uns vor Gericht zwingen könnten, die Einschußlöcher als kunstvolles Ornament beurteilen zu müssen. Das wäre dann die hohe Kunst des Henkers. Die andere Welt wäre in der Lage, nur noch das zuzulassen, was eindeutig und vor allem nur noch gut wäre. Das wäre die Welt der Abgeordneten des Berliner Reichstags, die ein bißchen Erde in Haakes Blumenbeet streuen und somit gesamtschultechnisch ihren mißverstandenen Kunstunterricht auffrischen. Was aber ist mit denen, mit denen "Kunst" gemacht wurde? Waren sie bloße Farbe in der Hand des unsichtbaren Künstlers? Auf unserer Station gibt es zahlreiche Fälle von Kunstfehlern. Menschen mit Blinddarmdurchbruch, die nach der Operation nicht mehr laufen konnten, oder Gesichtsoperationen, die jeden Badezimmerspiegel zum Zerspringen bringen. Der Arzt wollte die hohe Kunst des Helfens vollbringen, wollte malen wie die Maler am Montmartre, wurde aber aus unerfindlichem Grund ein Jackson Pollock. Das Nachsehen hat der sich nun selber betrachtende Betrachter. Und genau hier liegt wahrscheinlich der Schlüssel zur Stockhausen-Welt. Oberflächlich betrachtet, müßte man Stockhausen sofort festnehmen, seine Bankkonten auf merkwürdige Bewegungen hin untersuchen und seine bisherige Arbeit verbieten. Intensiver betrachtet, erkennt man aber, wie sich der selbstverliebte Betrachter nun plötzlich entlarvt fühlt, weil das, was er betrachten will, unwiderruflich verschwunden ist. "Jetzt hilft nur noch Selbstbetrug! Also her mit dem Schuldigen!" Doch die Zeit hat angehalten. Täuschung zwecklos. Nichts anderes sagt Stockhausen, der vom Kunstwerk und nicht vom Machwerk redet! Der gesamte Amerika-Crash ist etwas anderes! Er hat die Welt keineswegs angehalten, und Amerika muß begreifen, daß auch noch andere die Uhr bedienen. Der Amerika-Crash hat den Hefekuchen zum Platzen gebracht, der im Aberglauben, das Gute sei durch Selbsttäuschung und Selbstgefälligkeit durchzusetzen, gescheitert ist.

Ich plädiere also dafür, Stockhausen laufenzulassen, und die Irritation, die er mit seiner Äußerung ausgelöst hat, zu genießen! Im Kern haben wir es hier nämlich mit dem Phänomen der Selbstbeschmutzung zu tun. Stockhausen beschmutzt sich mit einem Gedanken, den man nicht denken darf, obwohl Gedanken nicht strafbar sind! Er haftet! Betrachtet man aber die Verursacher dieser Katastrophe, und damit meine ich Jesus und Mohammed, so versteht man den Wendepunkt unserer Zeit: Mohammed fiel im Kampf, Jesus am Kreuz. Mohammed im Akt der Beschmutzung, Jesus im Akt der Reinigung durch Läuterung. Beide kommen nach oben, wodurch diese verdammte Nackensteifheit unserer Zeit zu erklären ist. So kommen wir nicht weiter! Holen wir Allah und Gott endlich runter von ihrem Sockel und geben wir zu, daß wir neunzig Prozent unserer Zeit nur damit verbringen, unser Körbchen sauberzuhalten, anstatt nach einer "Raum und Zeit durchdringenden Lösung" zu suchen, die den Abgrund unserer Gedanken akzeptiert, damit wir nicht ständig vor den Abgründen anderer kapitulieren. Die Gedanken sind frei, wir dürfen handeln!

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main





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