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INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.05.2000, Nr. 120, S. BS3 |
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Intensivstation
2. Entgegen der Behauptung vieler Leute, ich sei Regisseur, habe ich seit meiner Jugend
das Gefühl, dass ich eher Chirurg oder Facharzt für Innere Medizin oder ein ganz
phantastischer Patient bin, der sich selber heilt oder auch krank macht. Kaum war unsere
Premiere in Graz vorbei und bis auf die österreichische Staatsanwaltschaft alle
begeistert, da machte sich ein so großes Glück in meinem Kopf breit, dass das Schicksal
zu einem katholischen Gegenschlag ausholte und mich ins Krankenhaus beförderte. Der
Körper begehrt auf, die Zellen wollen sich vermehren. Ohne Kontrolle. Auch nach einer
Woche noch immer nichts Neues. RippENfellentzündung soll es sein, aber Lungenfell wohl
auch. Eine Magenspiegelung muss "in meinem eigenen Interesse" stattfinden, sagt
der Arzt. Ein Pförtnertumor ist nicht auszuschließen: "Sie haben Lungenkrebs.
Unheilbar! Zigarette?" (Buñuel). Nein danke, ich habe mich gerade entschlossen, der
Politik Adieu zu sagen und die Welt als Krankheit zu betrachten. Das ist weitaus
politischer, als es aussieht.
Die Fahrt zur Magenspiegelung verläuft fast spannungsfrei, keine Reize. Muss aber immer
an den Kornkaffee denken, den meine Mutter früher zur bergischen Waffeltafel machte und
der nun hier ohne Mutter und ohne Waffeln, aber in Schnabeltassen serviert wird.
Schnabeltassen deshalb, weil der eigene Schleim im eigenen Tässchen bleibt und nicht im
Raum herumfliegt. Schleim ist Tummelplatz für Bakterien. Bakterien helfen bei der
Zersetzung, aber manchmal kennen sie keine Grenzen und springen von einer Schnabeltasse
zur anderen. Das nennt man Infektion oder auch Trend. Ein Bakterium ist im Trend, heißt
also, dass es in allen Schnabeltassen vorkommt, ohne dass jemand damit gerechnet hat. Ein
Trend ist nicht planbar, weil ein Bakterium zum eigenen Schutz seine Trendabsichten
verschweigt. Magazine wie "theater heute" etwa vermuten hinter allem einen Trend
und machen somit den gewaltigen Fehler, dass sie sich nur noch auf das bereits Sichtbare
einlassen, also erst reagieren, wenn man schon von Trend spricht. Das nennt man auf einen
fahrenden Zug aufspringen, damit man sieht, was bleibt. Aber eigentlich bleibt nichts, was
im Trend ist, und ein Bakterium, das bleibt, ist eine Epidemie. Demnach bleibt nur das,
was schon dermaßen verseucht ist, dass es gar nicht mehr anders kann, als zu verwesen.
Das nennt man dann deutsches Theater.
CHRISTOF SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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