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INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.10.2000, Nr. 246, S. BS6 |
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Intensivstation
20. Kurzausflug beendet. Zurückgekehrt auf die Intensivstation.
Hier hat sich viel verändert. Lügen sind ab sofort erlaubt. Wahrheiten werden ebenfalls
als Lügen behandelt. Gleich am Eingang habe ich eine konzentrative Bewegungstherapie
gebucht. Das ist eine körperorientierte psychotherapeutische Methode. Lachen zur
Verdauung, Drehen zum besseren Denken, Hüpfen gegen Depression. Bin fast zwei Stunden
durchgehüpft. Eine ziemlich große Gruppe von 28 Hüpfern, die sich jede Woche zweimal
trifft. Wir hüpfen dann quer durch die Klinik. Manchmal kommen uns sich drehende
Patienten entgegen. Manche von uns stoppen dann das Hüpfen und drehen sich, denn wer viel
hüpft, hat kaum noch Depressionen, kann aber meist auch keinen klaren Gedanken mehr
fassen, denn Depression fördert Wahrheit oder hilft zumindest, die Wahrheit als Lüge zu
begreifen. Dabei kommt es zu vielen Fragen, die keine Antwort vertragen. Zum Beispiel: Wie
gehe ich mit meinen Gefühlen um? Wie und wo nehme ich sie im Körper wahr? Wie begegne
ich anderen Menschen mit meinen Wünschen nach Nähe und Geborgenheit, nach Abgrenzung und
Durchsetzung? Welche Signale sendet mein Körper, um mich auf Störungen aufmerksam zu
machen, und wie kann ich sie verstehen? Rainald Goetz hüpft gerne mit. Er bewegt sich zur
Musik, hüpft, dreht sich und rennt dann zu einem Block, um dort Notizen zu machen.
Herausgebrochene, geschüttelte Gedanken. Meist macht er dann noch ein Foto als Beleg,
daß er tatsächlich dabei war beziehungsweise daß ihn andere gesehen haben, wie er sich
schüttelte und dabei drehte. Meist verschreckte oder eitle Wesen. Eine depressive, sich
drehende, hüpfende Bewegungsmaschine verwertet die eigene Depression durch Beleg
staunender, geschmeichelter Gesichter. Wer nichts glaubt, hat die Wahrheit als Lüge
begriffen und somit immer recht. Am eigenen Leib kann man so lebensgeschichtliche und
aktuelle Zusammenhänge begreifbar machen. In diesem geschützten Rahmen können neue
Verhaltensweisen erprobt werden. "Bitte bringen Sie dicke Socken und eine Wolldecke
mit." Ansprechpartnerin ist Frau Pees. Sie hat in Berlin begonnen zu hüpfen und hat
es bis nach Hannover geschafft. Manche kamen aus Hamburg, viele aus dem Nichts. Sie alle
sind in die Klinik gekommen, weil ein Mensch, der ihnen nahestand - ein/e Verwandte/r,
eine Freundin, ein Freund - hier Patient/Patientin geworden ist. Sie alle machen sich
Gedanken und Sorgen. Denn wenn in einer Familie wie der Volksbühne zum Beispiel oder bei
Zerschlagung einer Familie (siehe Hamburg oder BE) jemand erkrankt, dann sind auch die
anderen davon betroffen. Sie haben Fragen, unter Umständen Schuldgefühle und leiden
ebenfalls unter dieser neuen oder vielleicht schon Jahre bestehenden Situation. Man wird
krank, ohne es gewollt zu haben. Viele sind krank, kaum noch einer unkrank. Wir sind jetzt
alle auf einer gemischtgeschlechtlichen, offenen Station. Wir haben alle unsere
Medikamente zur Aufbewahrung abgeben müssen. Telefonate mit meinem Onkel sind nicht
erlaubt. "Da Körper und Seele eine Einheit bilden", heißt es auf einem Aushang
im Gang, "möchten wir Sie auffordern, den therapeutischen Prozeß durch ein
gesundheitsbewußtes Verhalten zu unterstützen. Da die Behandlung mit Belastungen und
Anstrengungen verbunden ist, sollten Ruhezeiten eingehalten werden. Gewalt und Androhung
von Gewalt werden grundsätzlich nicht geduldet. Bei Zuwiderhandlung dieser Regel behalten
wir uns entsprechende Konsequenzen vor." Ich habe Angst. Könnte es sein, daß auch
die Ärzte von Patienten gespielt werden? Ist das der Verdacht, der mich immer wieder in
diese Klinik treibt? Warum bin ich heute heulend aufgewacht und habe den ganzen Tag
weitergeheult? Ich glaube, daß mich nur noch der Verdacht am Leben hält. Welcher, ist
erst mal egal. Hauptsache, ich kann noch hüpfen.
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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