English Deutsch Argentina
Brasil Chinese Latvijas
Foto: David Baltzer
Operndorf Afrika (Remdoogo)
Oper
Installation
Theater
Film
Aktion
Hörspiel
Fernsehen
Kolumnen
Atta-Kunst
INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
23 24 25 26 27 27b 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43



Neue Seite
Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.10.2000, Nr. 246, S. BS6

Intensivstation

20. Kurzausflug beendet. Zurückgekehrt auf die Intensivstation. Hier hat sich viel verändert. Lügen sind ab sofort erlaubt. Wahrheiten werden ebenfalls als Lügen behandelt. Gleich am Eingang habe ich eine konzentrative Bewegungstherapie gebucht. Das ist eine körperorientierte psychotherapeutische Methode. Lachen zur Verdauung, Drehen zum besseren Denken, Hüpfen gegen Depression. Bin fast zwei Stunden durchgehüpft. Eine ziemlich große Gruppe von 28 Hüpfern, die sich jede Woche zweimal trifft. Wir hüpfen dann quer durch die Klinik. Manchmal kommen uns sich drehende Patienten entgegen. Manche von uns stoppen dann das Hüpfen und drehen sich, denn wer viel hüpft, hat kaum noch Depressionen, kann aber meist auch keinen klaren Gedanken mehr fassen, denn Depression fördert Wahrheit oder hilft zumindest, die Wahrheit als Lüge zu begreifen. Dabei kommt es zu vielen Fragen, die keine Antwort vertragen. Zum Beispiel: Wie gehe ich mit meinen Gefühlen um? Wie und wo nehme ich sie im Körper wahr? Wie begegne ich anderen Menschen mit meinen Wünschen nach Nähe und Geborgenheit, nach Abgrenzung und Durchsetzung? Welche Signale sendet mein Körper, um mich auf Störungen aufmerksam zu machen, und wie kann ich sie verstehen? Rainald Goetz hüpft gerne mit. Er bewegt sich zur Musik, hüpft, dreht sich und rennt dann zu einem Block, um dort Notizen zu machen. Herausgebrochene, geschüttelte Gedanken. Meist macht er dann noch ein Foto als Beleg, daß er tatsächlich dabei war beziehungsweise daß ihn andere gesehen haben, wie er sich schüttelte und dabei drehte. Meist verschreckte oder eitle Wesen. Eine depressive, sich drehende, hüpfende Bewegungsmaschine verwertet die eigene Depression durch Beleg staunender, geschmeichelter Gesichter. Wer nichts glaubt, hat die Wahrheit als Lüge begriffen und somit immer recht. Am eigenen Leib kann man so lebensgeschichtliche und aktuelle Zusammenhänge begreifbar machen. In diesem geschützten Rahmen können neue Verhaltensweisen erprobt werden. "Bitte bringen Sie dicke Socken und eine Wolldecke mit." Ansprechpartnerin ist Frau Pees. Sie hat in Berlin begonnen zu hüpfen und hat es bis nach Hannover geschafft. Manche kamen aus Hamburg, viele aus dem Nichts. Sie alle sind in die Klinik gekommen, weil ein Mensch, der ihnen nahestand - ein/e Verwandte/r, eine Freundin, ein Freund - hier Patient/Patientin geworden ist. Sie alle machen sich Gedanken und Sorgen. Denn wenn in einer Familie wie der Volksbühne zum Beispiel oder bei Zerschlagung einer Familie (siehe Hamburg oder BE) jemand erkrankt, dann sind auch die anderen davon betroffen. Sie haben Fragen, unter Umständen Schuldgefühle und leiden ebenfalls unter dieser neuen oder vielleicht schon Jahre bestehenden Situation. Man wird krank, ohne es gewollt zu haben. Viele sind krank, kaum noch einer unkrank. Wir sind jetzt alle auf einer gemischtgeschlechtlichen, offenen Station. Wir haben alle unsere Medikamente zur Aufbewahrung abgeben müssen. Telefonate mit meinem Onkel sind nicht erlaubt. "Da Körper und Seele eine Einheit bilden", heißt es auf einem Aushang im Gang, "möchten wir Sie auffordern, den therapeutischen Prozeß durch ein gesundheitsbewußtes Verhalten zu unterstützen. Da die Behandlung mit Belastungen und Anstrengungen verbunden ist, sollten Ruhezeiten eingehalten werden. Gewalt und Androhung von Gewalt werden grundsätzlich nicht geduldet. Bei Zuwiderhandlung dieser Regel behalten wir uns entsprechende Konsequenzen vor." Ich habe Angst. Könnte es sein, daß auch die Ärzte von Patienten gespielt werden? Ist das der Verdacht, der mich immer wieder in diese Klinik treibt? Warum bin ich heute heulend aufgewacht und habe den ganzen Tag weitergeheult? Ich glaube, daß mich nur noch der Verdacht am Leben hält. Welcher, ist erst mal egal. Hauptsache, ich kann noch hüpfen.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main






Weitere Beiträge und Kolumnen von Christoph Schlingensief

- INTENSIVSTATION (43 Beiträge) (FAZ, 2000/2001)
- DIE FLEISCHWURST (Süddeutsche, 2001)
- WO IST GOTT? (Tagesspiegel, 27.01.02)
- DEUTSCHLANDMUTTER - Zum Tode von Hildegard Knef (DIE ZEIT, 07.02.02)
- DEUTSCHLAND MUß HÄRTER WERDEN (Zitty Stadtmagazin, 20/02)
- POLITIKERENTSORGUNG (Tagesspiegel, 21.09.02)
- THEATER IHRES VERTRAUENS (Theater heute, 1/03)
- AKTION 18-TAGEBUCH (Süddeutsche, 24.-28.06.02)
- SCHONEN SIE IHRE WÄHLERSTIMME! (TV Spielfilm, 42/02)

Mehr von Schlingensief

- Weitere Kolumnen
- Biographie
- Newslog
- Presse
- Schlingensief Shop