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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.08.2000, Nr. 193, S. BS6

Intensivstation

12. Gleich zur Sache: Wenn die Sehnervfasern das Auge verlassen, treten sie einfach zu einem Bündel zusammen; am Kniehöcker angekommen, laufen sie wieder auseinander und enden in einem topographisch geordneten Muster. Merkwürdigerweise geraten die Fasern unterwegs vollkommen durcheinander; sie organisieren sich jedoch wieder, sobald sie den Kniehöcker erreichen. Somit stellt sich also die Frage, ob dieses Durcheinander tatsächlich zu einem für alle Menschen gleichen Gesamtergebnis führt. Könnte es nicht sein, daß manche Leute diese Ordnung beherrschen, während andere am Ende ein ganz anderes Bild vor oder in sich finden?

Ich denke, daß einige Menschen - gerade in der Politik - durch dieses Chaos wertvolle Zeit verlieren. Sie glauben etwas zu sehen, was sie schon lange vorher hätten sehen können. Der chaotische Weg der Sehnervfasern hat ihre Wahrnehmung verlangsamt. Sie erzählen uns im Sommerloch 2000 von Nazibewegungen, die es aber schon zehn Jahre vorher gegeben hat. Die SPD schaltet daraufhin fünf Kontaktadressen, bei denen man sich melden kann, wenn man einen Nazi entdeckt hat, und die CDU fordert ein Ende der Gewalt. Tolle Einfälle in einer Zeit, in der alles möglich geworden ist.

Die bloße Tatsache, daß eine Zelle im Gehirn auf visuelle Reize reagiert, bedeutet nicht unbedingt, daß sie eine direkte Rolle in der Wahrnehmung spielt. Will heißen, daß viele Strukturen im Hirnstamm mit vorwiegend visueller Funktion zum Beispiel nur an der Augenbewegung, der Pupillenverengung oder dem Fokussieren mittels Linse beteiligt sind. Das könnte also bedeuten, daß die eigene Lage die Beurteilung äußerer Dinge stark beeinflußt. Demnach könnte es also sein, daß sowohl SPD als auch CDU die Dinge zu geradeaus betrachten, um zu verstehen, daß nicht das, was uns geradeaus begegnet auch tatsächlich das ist, was es eigentlich zu sehen vorgibt. Somit wäre also der Naziaufmarsch im Sommerloch 2000 nicht unbedingt das, was einen wirklichen Naziaufmarsch ausmacht. Nur zu gut muß an dieser Stelle auf Mark O'Brian hingewiesen werden, der seit 30 Jahren in einer eisernen Lunge lebt. Seine Blickrichtung ist nicht geradeaus, sondern waagerechtaus. Damit er außer dem U-Boot, in dem er liegt, überhaupt noch etwas sieht, besitzt er zwei Fahrradspiegel, die ihm die Welt abbilden. Seit seiner Ankunft auf unserer Station haben sich die rechtsradikalen Anschläge in der Charité fast verdoppelt. Erst gestern ein Brandanschlag auf die Herzstation, vor einer Woche Aufmärsche von Todgeweihten zwischen Radiologie und Notaufnahme. Mark behauptet, daß diese Aktionen auf seine andere Blickrichtung zurückzuführen sind. Sozusagen eine Art Widerstandsbewegung gegen andere Blickrichtungen. Da aber Widerstand seit unserer Wien-Aktion abgeschafft und durch geschickte Spiegeltechnik in Widersprüchlichkeitsphänomene umgewandelt wurde, ist klar, daß andere Blickrichtungen über Spiegel in keinem Fall geschmacklos sind. Ein Spiegel kann niemals geschmacklos sein. Nur das, was er abbildet. Mark sieht also höchstenfalls geschmacklose Phänomene und kann sich mit einer einzigen Kopfbewegung selber mit dem Geschmacklosen abbilden. Er tritt sozusagen in den Spiegel der Geschmacklosigkeit ein und sieht sich mit dem Geschmacklosen zusammen in einem Bild.

Ich würde also die Verwirrung der Sehnervfasern (siehe oben) als Pufferzone betrachten. Wir, und damit meine ich ganz besonders SPD und CDU, sollten sich nicht auf das Niveau eines Bürgertelefons oder einer Homepage bei AOL herablassen, sondern die Chance nutzen, sich selber im Geschmacklosen zu entdecken. Nach zehn Jahren Ausländerklatschen in Deutschland ist es für einen Menschen in einer eisernen Lunge äußerst geschmacklos, so zu tun, als hätte man das Recht, das Geschmacklose nur vor sich zu sehen. Die Komplexität der Histologie oder mikroskopischen Anatomie des seitlichen Kniehöckers läßt jedenfalls erwarten, daß Unterschiede zu finden sein sollten, wenn man die richtigen Gegebenheiten vergleicht; doch was in diesem Zusammenhang "richtig" ist, ist schwierig herauszubekommen.

Oder finden Sie es nicht auch extrem geschmacklos und verfälschend, wenn ein Kleinkind im Frühling in einem Kinderwagen liegt und nach oben glotzt und die Eltern von einem wunderschönen Frühling mit bunten Farben sprechen? Das Kind glotzt nur nach oben und sieht nichts weiter als kahle Äste. Aber ist das der Frühling, den die Eltern beschreiben? Äste ohne Blätter? . . . Wir Patienten sagen "Nein"! Wir halten nichts von Symbolen, weil sie uns den wahren Schmerz ersparen wollen. Wir Kleinkinder wissen zu genau, daß der als bunt beschriebene Frühling blätterlos enden wird. Das haben wir von den Sehnerven gelernt. Sie geben uns die Zeit zu zweifeln, weil das, was wir sehen, nicht unbedingt der Wahrheit entspricht, sondern schon Jahrhunderte vorher passiert sein kann. Oder würden Sie sich mit einer Operation begnügen, bei der Ihr Arzt sie nur symbolisch operiert?

Ich denke "Nein"! Darum lassen Sie uns gemeinsam kämpfen. Kämpfen für Fahrradspiegel an den Köpfen der Politiker. Herzlichst Ihr

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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