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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.2000, Nr. 239, S. BS4

Intensivstation

19. Heute kam Maria Uppington aus Rom auf unsere Station. Ihr Evolutionsvorschlag besteht aus der Abschaffung von Händen, Armen, Füßen und Beinen. Marias Kopf sitzt sozusagen auf einem Torso. Sie kann sprechen, lachen, denken, also alles, was in einer Großaufnahme des Gesichts die Vermutung einer schweren Behinderung ausschließen würde. Maria hat in Großaufnahme kein Problem, nur dann, wenn die Kamera etwas aufzoomt. Nach Einschätzung eines führenden deutschen Dramatikers hat keiner das Recht, eine Totale zu zeigen. Der Einsatz einer Totale würde nach Meinung dieses Dramatikers Marias Portalkraft behindern. Aber was soll das heißen? Ich bin sicher, daß die Qualität eines Portals in seiner angeblichen Funktionalität liegt. Es gibt das Kluge-Portal, das Goetz-Portal, das Castorf-Portal, das E-on-Portal usw. . . . Auch ich bin ein Portal. Viele noch nicht. Sie sind zwar ein Portal, aber als solches noch nicht anerkannt. Ein großes Problem, das man aber durch waghalsige Behauptungen (siehe Börse) angeblich sehr schnell lösen kann. Nun zeigt aber die Börse, daß viele Portale erst mal eine gewisse Eingangssituation beschreiben, dann aber nach längerem Hinsehen kaum einer weiß, warum er dort herein- oder herausgehen soll. Das nennt man dann Trompe-l'æil. Da wird auf eine Wand eine Tür gemalt, damit es so aussieht, als gäbe es dort eine Tür, aber in Wirklichkeit kann man nichts öffnen oder schließen, sondern lediglich gegen eine Wand laufen.

Am Trevibrunnen gibt es z.B. ein solches Portal auf der zweiten Etage oben rechts. Aus geometrischen Gründen wurde dort auf eine Mauer, hinter der kein Raum ist, ein Fenster gemalt, damit der visuelle Gesamteindruck im Gleichgewicht bleibt. Somit dürfte also allmählich klar sein, daß es Portale gibt, die nur auf Stein gemalt sind, und andere, die man benutzen kann. Auf Buchmessen gibt es z.B. Buchdummys. Das sind Bücher, die zwar einen Schutzumschlag haben, innen aber leere Seiten. "Leere Seiten oder leere Seiten?" fragt der Lektor. Er meint den Unterschied zwischen blanken oder vollgeschriebenen Seiten, die aber ohne Inhalt sind. Das ist raffiniert, doch wer will das entscheiden? Der Vatikan jedenfalls besitzt momentan das wohl interessanteste Portal. Ein Tor, daß nur alle 2000 Jahre geöffnet wird und das einem, vorausgesetzt, man marschiert hindurch, die Sünden vergibt. Interessant ist an diesem Portal, daß es Öffnungszeiten besitzt. Es ist nicht möglich, abends nach 19 Uhr durch dieses Tor zu gehen, es sei denn, der Papst geht mit; denn er hat die Schlüssel. Womit ich wieder bei diesem Dramatiker bin. Er behauptet zu wissen, wann welches Portal zu öffnen und zu schließen hat und was es für eine Funktion besitzt. Mich macht so etwas maßlos wütend. Ich würde diesem Dramatiker gerne ein Fenster auf die Stirn malen. Dann hätte man zumindest das Gefühl, daß er mal lüften kann. Es ist nämlich ausgesprochen billig, anderen die Perspektive vorzuschreiben. Es gibt diese Anordnungen nicht mehr. Sie gehören ein für allemal übermalt. Marias Totale zeigt einen Evolutionsvorschlag, der nicht gemalt, sondern realistisch ist. Und genau da liegt der Unterschied. Ein Großteil der anerkannten Portale sind durch ihre eingebildete Haltung anderen Portalen gegenüber dermaßen übermalt, daß sie zwar unsterblich sind, aber eigentlich nur als Wandtapete funktionieren. Sie sind erstarrt in Selbstbewunderung. Sie wissen genau, was geht und was nicht geht, denn sie hängen auch dann, wenn alle den Raum verlassen haben. Maria ist zwar auch ein Portal, aber eines, durch das man nicht gehen will. Da bleibt es ihr doch wirklich selber überlassen, wann sie öffnet und wann nicht. "Das ist der Grund der Krise. Alles, was an Neuem sich auf Erden vollzieht, muß sich durch den Menschen vollziehen . . ." (Beuys) . . . und nicht durch Wandtapeten . . .

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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