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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.02.2001, Nr. 48, S. BS3


Intensivstation

30. Bernd Alois Zimmermann hat die rasanteste Oper der Moderne gebaut. Sie heißt: "Die Soldaten". Es geht darum, daß in Straßburg ein junges Mädchen von Offizieren nacheinander verführt und weggeschmissen wird, bis sie untergeht. Es ist im Grunde dieselbe Geschichte wie Luisa Miller in "Kabale und Liebe" und ist gedichtet vom Sturm-und-Drang-Dichter Lenz. Also eine frühe Geschichte von 1790. Zimmermann war Assistent beim WDR und durfte dort eigentlich nie etwas komponieren, außer so kleinen Zwischenspielen für Hörspielmusik. Eigentlich ist er der größte deutsche Komponist, den man jemals beim WDR hatte, einer großen Rundfunkanstalt, die eine Milliarde Mark pro Jahr ausgibt. Das ist sozusagen Schmerz nicht in sentimentaler Form, sondern in abgründiger Form. Schmerz, den man gar nicht mehr aushält. So wie in "Wozzeck" von Alban Berg. Das klingt manchmal wie Foltermusik, so ernsthaft. Dann kommt Ligeti, der hat eigentlich nur eine Oper in seinem Leben gemacht, die ist aber sehr schön und heißt: "Le grand macabre". Wie nennt man denjenigen, der im Evangelium des Johannes die Welt vernichtet? So etwas Ähnliches wie der Tod. Der kommt auf die Erde und will den Weltuntergang vollziehen und verschläft den aber. Also das Böse verschläft den Weltuntergang, den es bewirken will. Das ist eine unglaublich komische und musikalisch grandiose Oper. Dann kommt "Die Eroberung von Mexico" von Wolfgang Rihm. Und jetzt lasse ich mal die Nono-Opern weg. Alban Berg hat "Wozzeck" und "Lulu" gemacht und Schönberg "Moses und Aaron", kaum zu verwenden, denn die sind viel zu komplex. Mehr als diese Opern gibt es nicht, die brauchbar wären. Brauchbar für denjenigen, der auf Seite drei schreiben will, dann aber doch in einer Seitenspalte landet. Das ist bitter. Fast so schlimm wie das Mädchen bei Zimmermann. Sie wird benutzt. Benutzt werden, sich gebrauchen lassen. Alles Begriffe, die auch im Betrachter schlummern, die er aber nicht nutzen will, weil er Angst hat. Da sucht er sich lieber so eine Art Pseudofokussierung. Der Betrachter untersucht einen bereits bekannten Gegenstand, um ihm immer und immer wieder dieselbe Krankheit zu attestieren. Der Patient kann mittlerweile wieder laufen, die Lulu ist bereits wieder an Land, aber der schmerzverdrängende Betrachter von heute besteht auf seiner alten Diagnose. Lulu bleibt Lulu. Das kommt wohl von den einmal geglaubten Entwicklungsstufen. Gott kam immer vor den Menschen. Aber was kam vor Gott?

Muß ein durchschlafender Weltvernichter immer weiterschlafen? Die Oper ist ja im Grunde das Protokoll dieses Dilemmas, also ein Zerrspiegel, über 350 Jahre bürgerliche Geschichte. Da kommt kein Irrtum vor, den die bürgerliche Gesellschafte nicht auch schon begangen hat. Man muß nur richtig lesen. Richtig lesen ist aber sehr subjektiv. Da schwärmt ein Kritiker von einer Aufführung, und wenn man genau nachfragt, dann erfährt man, daß er von seiner Sitznachbarin berichtet hat. Ein anderer stöhnt und jammert, und wenn man ihn fragt, dann berichtet er gerne über seine Freundin, die am selben Haus der Aufführung arbeitet und sich ihm seit Wochen verweigert. Alles ist Schmerz.

Man muß nur richtig reagieren. Langhans meinte: Schmerz abbrechen heißt Schmerz suchen. Das war die schönste Stelle in meiner Oper. Schmerz muß bleiben. Persönlicher Schmerz. Es hat keinen Sinn, den Schmerz oder das Glück eines anderen zur Grundlage zu machen. Schmerz im eigenen Körper, zum Beispiel im Nacken, kann nur an Ort und Stelle behandelt werden. Dieser Schmerz ist auch dann, wenn ein anderer von Glück redet. Beziehen Sie also niemals Ihren Schmerz auf etwas anderes oder stellen Sie Forderungen, bloß weil sie gerade glücklich sind. Nehmen sie Ihren Schmerz mit. Egal, wohin. Vielleicht gibt es Länder, in denen Ihr Schmerz besser aufgehoben ist. Interessant zum Beispiel bei Korngold. Er hat die Oper "Die tote Stadt" geschrieben. Das ist die romantischste, schmerzerfüllteste Oper, die es jemals gegeben hat. Korngold war ein jüdisches Wunderkind um die Jahrhundertwende, der erst als Pianist, dann als junger Mozart gefeiert wurde und dann diese Oper komponiert hat: "Die tote Stadt". Die spielt in Brügge, in einer Atmosphäre der Dekadenz, und eigentlich möchten in dieser Oper alle vor Liebe sterben. Das ist Trennungs- und Liebesschmerz aufs äußerste. Korngold nahm seinen Schmerz und wanderte in die Vereinigten Staaten aus. Dort hat er die Hollywood-Musik begründet. Und die Fähigkeit eines Hollywoodfilms, so richtig große Musik zu machen und dabei alles, was Wagner kann, noch einzubeziehen, das ist Korngold. Wer weiß, was Hollywood musikalisch geworden wäre, hätte Korngold seinen Schmerz in eine andere Klinik mitgenommen.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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