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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.03.2001, Nr. 76, S. BS6


Intensivstation

32. Auf diesem Wege möchte ich meine große Sympathie allen kämpfenden Castor-Gegnern mitteilen. Ich war zu feige zu kommen. Ich war auf Fuerteventura. Aber ich habe alle Sendungen genau verfolgt und weiß nun Bescheid, daß ich nichts weiß von dem, was ihr an 68er Bildern abgearbeitet habt, um endlich neue Bilder entstehen zu lassen. Ihr seid auf dem richtigen Weg! Ab jetzt ist 68 zu Ende! Kein frisches Blut für alte Schläuche! Schily redet von unentschuldbaren Taten, von Höchststrafe, und Trittin muß erklären, "WAS NUN HERR TRITTIN" bedeutet, als wäre man an ihm interessiert. Im ZDF dazu die passende Rückschau mit Demos aus den wilden Siebzigern und zweimaliger Zeitlupenwiederholung von Fischers Fußtritten gegen einen armen, armen, armen, hilflosen, nur sich selber verteidigenden und eben nicht den Staat, den er vertritt, verteidigenden Polizisten. WAS IST DA LOS?

Sind wir verrückt? Warum kann ein CDU-Mann nicht wie ein Skin wirken? Wer ist schuld, wenn ich Herrn Goppel plötzlich als Lagerkommandanten zu erkennen glaube und einen Abgeordneten des Bundestages als Ulrikes Mörder? Natürlich ist Goppel kein Lagerkommandant, aber ich unterstelle mal, daß er diesen Eindruck von Härte gern vermittelt. Und Cohn-Bendit? Warum kam sein Päderastenzitat plötzlich in der Bild-Zeitung parallel zu Ulrikes Mörder? "Je mehr wir planen, regeln, reglementieren, desto mehr nimmt das Chaos zu. Das muß man endlich einsehen: Das Chaos ist die Ordnung", sagt Aurel Schmidt.

Aber ist das wirklich Chaos? Chaos ist die einzige Möglichkeit, die Angst vor dem Erwachsenwerden loszuwerden. Wir sind alle viel zu müde, um zu begreifen, daß wir das Schlechte loben und das Gute schlechtmachen müssen, weil wir Ordnung als Lüge empfinden. Alles im Griff, alles im Lot, aber tief drin sitzt der Zweifel. Regine Hildebrandt kämpft gegen den Krebs. Maischberger lächelt sie an; sanft und verständnisvoll. Allmählich werden die Augen immer dicker. Verständnis oder Zuversicht, daß das Gegenüber bei allem Kampf gegen die Ungerechtigkeit der Welt - besonders in Brandenburg - sich selbst als Kriegsherd ausgeschlossen hat. Und Harald Schmidt sagt: Ich bin ein Hypochonder. Verhör bei Gaus. Rainald Goetz ist abgetaucht. Viva schließt seinen erfolgreichsten Sender. Becker hat eine Neue. Bohlen auch. Merkels Falten wirken aufgespritzt. Und bei Fischer würde ich nicht ausschließen, daß er in 5 Jahren wieder im Untergrund kämpft.

Selbst mein Onkel wirkt müde bei seinem erfolgreichen Kampf, die Dinge umzudrehen. "Nur die Liebe zählt", sagt einer seiner Neffen. "Das ist der Moment, wo Chaos willkommen ist, weil keiner weiß, was morgen ist und es auch scheißegal ist." Also fehlt die Liebe, und Hamlet zögert, weil er eine Rechnung offen hat. "Lieber das Böse entlarven als sich ins Glück zu stürzen", denkt Hamlet, und Ophelia wird verrückt. Unsere Station ist entsetzt. Wir kämpfen für Ordnung im System. Wir freuen uns über Unordnung bei unserem Zimmernachbarn und lächeln, wissend, daß man bei achtzig Prozent aller Patienten am Tag der Entlassung eine neue Krankheit oder einen Rückfall entdeckt. Aussteigen ist verdammt schwierig geworden. Auseinandersetzung will jeder, Frieden keiner.

"Wir müssen denen, die wirklich aussteigen wollen, die helfende Hand reichen. Jede Chance, junge und alte Menschen aus der Gewaltszene herauszuholen - oder besser - sie gar nicht erst hineinschlittern zu lassen, muß genutzt werden", sagt Schönbohm, der Kindermörderjäger von Eberswalde. Leider reichen sich nur die Erwachsenen die Hand. Und Erwachsensein ist kein Maßstab mehr! Goppel, Merkel, Merz sind Kinder. Wie Vater Kohl. Der ist auch ein Kind. Und wenn Thierse nicht aufpaßt oder die Grünen nicht endlich aufhören mit ihrem Erwachsenenanspruch, dann reist unsere gesamte Klinik demnächst geschlossen zum Castor und beweist, daß Kranke und Hilflose die besseren Kämpfer sind. Wir legen uns auf die Schienen und sterben dort, bevor man uns wegträgt. Ob uns ein Arzt aufschneidet oder eine E-Lok, ist uns doch egal. Seitdem wir Ziegen, Katzen, Meerschweinchen und Pferde auf der Station haben, ist der Medikamentenmißbrauch um sechzig Prozent gesunken. Jedem Goppel seine Katze. Die kann er dann streicheln - in aller Härte.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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