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INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.07.2001, Nr. 169, S. BS3 |
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Intensivstation
37. Der Mensch steht unter dem Zwang, geliebt zu werden. Der eine versucht es mit Parfum,
der andere mit total kritischen Artikeln. Weltmeister in dieser Kategorie ist momentan
"Die Welt". Da gibt es unzählige Menschen, die sich ungeliebt fühlen und somit
alle Ventile dieser kleinen deutschen Welt anschalten, um sich bei ihresgleichen als
liebenswürdig zu erweisen. Leider "liest" in den Sommermonaten keiner so
richtig, sondern freut sich auf Sonnenmilch oder toskanisches Olivenöl. Gerade in
Urlaubszeiten lese ich mehr Zeitungen als sonst und stelle dabei fest, daß die wirklich
guten ziemlich genau ab 1. August verstummen und erst ab 15. September wieder erwachen.
Dazwischen liegen Sonnenstuhl, Wanderungen, eine Allergie in Afrika oder die Besteigung
eines schneesicheren Gebietes in der herrlichen Alpenlandschaft unseres Nachbarlandes
Österreich, das ja bekanntlich die Heimat von Jörg Haider ist.
Warum wird die Sommerzeit so gewaltig von den Medien vernachlässigt? Vielleicht, weil es
in dieser Zeit wirklich egal ist, was man schreibt, oder weil es, geradeso wie in jedem
Krieg, auch einfache Versorgungstrupps geben muß? Im Kriegsfall fällt dem
Versorgungstrupp ja die Aufgabe zu, die Zeiten zu überbrücken, in denen die Stoßtruppe
Luft holt oder der Kriegsverlauf in eine andere Richtung geplant wird, also ganz andere
Taktiken und Strategien erfordert als vorher. Kein schlechter Gedanke. "Die
Welt" glaubt noch immer, daß es einen Präventivschlag geben muß, um verheerenden
Entwicklungen vorzubeugen. Andere Blätter haben mittlerweile eine ganz gesunde Beziehung
zur Marktwirtschaft und planen etwas vorausschauender. Für sie ist ein Präventivschlag
die Zeit vor dem Einschlag.
Und genau das ist der Schlüssel für jede kommende Kulturpolitik. Ein guter Kultursenator
sollte die ersten Tage seines Feldzugs nutzen und für alle Fälle eine Logistik
entwickeln, die Sieg oder Niederlage miteinschließt. Er sollte die Stimmung, die ihn
umgibt, genau ausloten und daraus Schlüsse für spätere Kapitulationserklärungen
ziehen. Also jedes Gefühl des Losmarschierens sollte gespeichert werden. Denn das
Losmarschiergefühl ist der Grundstein und die Kraft für spätere Aktionen.
Nichts ist spannender als die Spannung vor dem Einschlag. Also der Moment, an dem man
meßbar wird. Der Einschlag beweist im Positiven wie im Negativen, ob es einen Sinn hatte,
vorher zu drohen oder den Himmel auf Erden zu versprechen. Beides gerät nach dem
Einschlag in die Hände der Ereignisverwerter. Sie messen die Wirkung und bemessen danach
die Dummheit des Kriegsherrn. Ein leichter Weg, denn es ist meines Wissens wesentlich
schwieriger, einen Krieg zu planen oder durchzuführen, als ihn zu bewerten. Der Bewerter
sitzt meist im Trockenen und kann die Vision des Kriegers in Buchstaben und Tabellen
fassen. Dabei hat er im schlechtesten Falle nur einen nach hinten gerichteten Blick. Er
kontrolliert und bewertet die Vorgaben mit den tatsächlichen Ergebnissen. Das ist sein
gutes Recht. Wenn er allerdings auf diesem Stand stehen bleibt, dann macht er nichts
anderes, als jede Evolution in Frage zu stellen. Er tritt mit dieser Haltung praktisch vor
den Anfang eines Krieges, was vom pazifistischen Standpunkt nicht unbedingt falsch ist,
was aber jede Form der Veränderung torpediert. Von daher wäre jede Operation schon vor
der Operation beendet, weil die Möglichkeit eines Fehlschlags die vielleicht sogar
notwendige Operation verhindern würde.
Ich frage mich, was passieren würde, wenn die Liga der Zweifler, die zweifelsohne die
Macht hat, tatsächlich an der Macht bliebe. Kein Patient würde mehr operiert, kein
Machtanspruch wäre mehr realisierbar. Was aber ist Macht? Ist Macht nur ein Ausdruck für
Stillstand? Oder versucht ein Chirurg die Unfähigkeit zur Reaktion zu verhindern? Jeder
Patient stellt sich die Frage, ob der kommende Eingriff die ursprüngliche Kampffähigkeit
wiederherstellt oder ob er nur die eigene Ohnmacht vor Augen führt. Ich kenne keinen
meiner Zimmernachbarn, der aus seinem persönlichen Krieg nicht gelernt hätte. Wer aber
glaubt, daß der andere nicht zum Lernen bereit ist, der unterstellt ihm gleichzeitig,
daß er seine Krankheit nicht ernst nimmt. Ich glaube aber, daß jeder, der Krieg führt,
auch gleichzeitig an seine Verletzbarkeit denkt oder glaubt. Ob er will oder nicht. Das
ist die Grundlage für kriegerischen Journalismus. Und der ist bei einigen
Sommerlochverliebten aus dem Blickfeld verschwunden. Ein erfolgreicher Präventivkrieger
denkt anders.
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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