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INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.07.2000, Nr. 157, S. BS3 |
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Intensivstation
8. Der Zustand auf unserer Station wird immer verzweifelter. Die Genomentschlüsselung
erscheint uns mittlerweile wie die Neuerfindung der Steinzeit. Oder wie die Neuerfindung
von Theater. Ein Funke Unerfüllbarkeit lastet auf allem. In der Steinzeit hat die Kunst
noch versucht, das Feuer zu bezwingen. Jetzt ist das Feuer verschwunden, jedenfalls hat es
viel von seiner Macht verloren. Kann man Mythos versichern? Ist Mythos reproduzierbar? Die
Steinzeitmenschen haben das Feuer bezwungen. Und dann? Nichts. Vielleicht eine Urkunde
überm Bärenfell oder eine Erwähnung in "Theater heute".
Vor einer Großoperation kann man sich nur noch durch vorzeitiges Ableben retten. Danach
wird man entweder zum Denkmal oder zum immerwährenden Restaurierungsfall. Ein
18-jähriger Greis vielleicht. Auch unseren Ärzten geht es immer schlechter. Die
Neuerfindung der Steinzeit hat sie in ihrer Ehre verletzt. Es war kurz nach der
Essensausgabe, als Chefarzt Bernhard unser Zimmer betrat. Wie von Sinnen und mit hochrotem
Kopf riss er sämtliche Schläuche aus der Wand, warf ein EKG-Gerät gegen das Bett meines
Zimmernachbarn, brüllte: "Ihr seid ja alle unheilbar krank", zog eine Pistole
aus dem Kittel und schoss sich in den Mund. Das Blut spritzte nach allen Seiten.
Gehirnmasse landete direkt neben meiner Schnabeltasse. Ein ausgesprochen eindrucksvoller
Abgang. Ich nutzte die Gelegenheit, sprang aus dem Bett, rannte zu meinem Zimmernachbarn,
riss ihm den Magenschlauch aus der Nase, knickte zwei Infusionsspritzen in
entgegengesetzter Nadelrichtung nach oben und schlug ihn mit einer kleinen
Sauerstoffflasche bewusstlos.
Jetzt aber schnell wieder zurück ins Bett. Kurz darauf ertönte eine Alarmglocke und
unser Pfleger kam. "Was ist hier los?" Ich stellte mich schwach und winkte ihn
zu meinem Bett. "Alles in Ordnung! Das ist Kunst! Eine ganz normale
Kunstaktion", krakelte ich auf einen Zettel, gerade so, als hätte ich eine
Kehlkopfentzündung. Der Pfleger war stark beeindruckt und starrte auf meinen Zettel.
Dabei kam er mir so nahe, dass ich nicht anders konnte, als ihm den Stift mit voller Wucht
in die Augenhöhle zu stoßen. Jetzt war er blind, jedenfalls zu 50 Prozent. Das gibt je
nach Versicherung 50 bis 200 000 Mark. Könnte also sein, dass das demnächst anders wird,
wenn man Augen nachproduzieren kann. Dann wäre die ganze Entschlüsselung nur im
Interesse der Versicherung gewesen und eine riesige Enttäuschung. Vielleicht ist aber
gerade das der Schlüssel zur letzten Bastion unserer Sehnsüchte? Einmal sicher sein,
dass alles da ist, dass alles verfügbar ist, auch wenn das neue Auge genauso gut wie das
alte sieht, oder war das alte Auge einfach besser? Nina besitzt nun einen neuen
Fotoapparat, der bessere Fotos macht als der Testsieger, und das, obwohl der Testsieger
fast 100 Mark billiger ist. Liegt also doch nicht am Geld, wenn man die Unschärfe der
Schärfe vorzieht.
Liegt einfach nur an den unbegründbaren, unversicherbaren Mythen, die die Begriffe auf
ihrem Weg ins Gehirn erzeugt haben. Stellt sich also in dieser Woche die Frage, ob die
Begriffe in Rudi Dutschkes Kopf auch nach dem Kopfschuss noch dieselben waren und was aus
ihnen wurde, als sie die Gehirnhälften tauschen mussten, damit Dutschke wieder davon
sprechen konnte.
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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