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INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.11.2000, Nr. 269, S. BS8 |
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Intensivstation
24. Selbstversuch gestartet. Natürlich geht es um Herbert Marcuse, aber natürlich bin
ich nicht Herbert Marcuse, und natürlich gibt es Leute, die viel besser wissen, was
Marcuse 1970 in seinen Vorträgen an der Princeton University und an der New School for
Social Research in New York City gesagt hat. Aber die Begriffe Revolution und
Konterrevolution sind mir bekannt. Zwar höre ich derweilen von Revolutionen (nie von
Konterrevolutionen) in der Südsee oder im Weltall, aber das ist für einen Patienten wie
mich viel zu weit. Ich höre auch von Revolutionen in meiner nächsten Umgebung, muß aber
erkennen, daß sie sich nicht mehr direkt zeigen, sondern nur noch maskiert in Erscheinung
treten. Noch vor einem Jahr waren Inder luftdicht in Containern verschlossen oder im
Radkasten einer 747 anzutreffen. Heute sind sie bereits bei Vobis oder direkt vor mir in
Form von indifferenten Befehlen, die ein Schriftbild erzeugen (dank ihrer hervorragenden
Programmierkenntnisse). Selbst die Zufügung von neuen Schrifttypen wie Old Hot Money oder
Global Player sind Revolutionen in meiner kleinen Textverarbeitung. Ist also das neue
Schriftbild oder die Verwandlungsfähigkeit der Inder revolutionär, oder steckt dahinter
eine Eigenschaft, die man als revolut bezeichnen könnte? "Das ist aber echt mal
revolut", will sagen: "Da hat sich eine Kraft in Gang gesetzt, die es immer
schon gab und die laut Alexander Kluge auf 20 Millionen Jahre Schubkraft unserer
Zeitrechnung beruht." Das, was wir als Revolution bezeichnen, ist die immerwährende
Wandlungsfähigkeit von Antriebskräften, die im guten wie auch im schlechten ihre Aufgabe
erfüllen. Allerdings hat sich Revolution in der Vergangenheit mit dicken Brüsten (siehe
Französische Revolution) gezeigt oder mit längeren ungewaschenen Haaren so um etwa '68
herum. Mittlerweile ist Revolution kaum noch als Gemeinschaftsgefühl sichtbar. Keine
dicken Brüste, keine fettigen Haare. Mehr so eine private
"Zwischen-den-Zehen-Herumpopeln- Revolution". "Revolutionen im 21.
Jahrhundert sind nicht mehr vorgesehen!" sagt Matthias Lilienthal. Lili, wie wir ihn
nennen, hat schon immer die täuschende Antriebskraft eines Schauspielers oder Regisseurs
in die für wahrhaftige Projekte notwendigen frustrierenden Gefühle umgewandelt. So eine
Art notwendige Schubumkehr, da es verheerend ist, wenn man vom immer Neuen ausgeht. (Siehe
Schaubühne und BE und natürlich auch Hamburg und siehe Spiegel und den kleinen
Wurstladen gleich um die Ecke!) Wurst ist Wurst, und das Abfüllen von Truthahnleber in
Kalbsdarm ist keine Revolution. Revolution hatte sich eine Aufgabe gesetzt und ist daran
gescheitert. Welche Aufgabe das war, steht in den Sternen. Zersplitterte Schicksale haben
der Anschubkraft der Revolution die Kraft und die Lust genommen (siehe Sternschnuppen!).
Auch die Entschlüsselung des Genoms ist keine Revolution, da sie den
Zersplitterungsprozeß nur weiter ausbaut und man aus Kraftsplittern - auch das war ein
Fehler der Atombombe - keine allgemeingültige Kraft zimmern kann. Der Ausbreitungswille
einer Idee ist größer als das Ziel. Die Atombombe mit ihrem revolutionären,
friedenstiftenden Auftreten hat nichts anderes bewirkt als allgemeines Desinteresse. Null
Bock auf Revolution (siehe Weltall!). Darum kämpfen auch so viele wieder mit Papas
Hitlerbärtchen. Das ist einfach, und das Gehirn macht mal Pause (siehe Mahler). Die reden
von 4. Reichsordnung und meinen nur noch Durchschlafen. Wir von U3000 wollen aber wissen,
wo die dicken Brüste (Mutter) und fettigen Haare (Vater) geblieben sind. Das ist Herbert
Marcuse. Das ist das geistige Gegenstück zur politischen Tyrannei. Und die muß man erst
mal finden. "Fang an in deiner Familie. Nimm das Kleinste und wunder dich!"
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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