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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.12.2000, Nr. 289, S. BS6

Intensivstation

25. Die ständigen Umarmungen vor der Operation waren sinnlos. "Das wird eine leichte Operation", hatten die Ärzte im Vorfeld verlauten lassen und teilweise bis zu fünfzehntausend Mark im voraus gefordert. Ärzte gibt es viele, aber nur wenige wissen, wo man wirklich schneiden muß. Der Rest spekuliert auf Unwissenheit. Es wird geschnibbelt und gesägt, aber keiner weiß, ob's wieder klappt. Hauptsache, die Maschine läuft und läuft und läuft. Mir geht es mittlerweile wieder blendend. Selbstoperationen sind ausgesprochen fortschrittlich, weil ein guter Patient selber entscheidet! Ein guter Patient muß sich selber heilen und operieren. Nur das erscheint nach den ganzen Börsenflops sinnvoll. Wie oft haben Kleinoperierende auf die Allmacht eines Großoperierenden gehofft. Das alles geht nun nicht mehr. Sauerstoff strömt durch den Schlauch. Der Körper lebt. Die ständigen Umarmungen hätten ihn fast erdrückt; denn eine Gesellschaft, die sich selber feiert, will nicht gestört werden. Das liegt in der Natur der Sache. "Wir wenden bereits seit Jahren keine Collagenspritzen mehr an", sagt Doktor Giglinger, "weil die Gefahr von BSE-Spritzen noch immer besteht." Was soll der Quatsch? Deutschlands Scharlatane leiden angeblich an Rinderwahnsinn. Viel gefährlicher ist aber Schnecken-BSE. Das ist die Gegenform, mit der wir uns allmählich abgefunden haben. Houellebeq will zur Volksbühne kommen, aber er bleibt - wie es einer Schnecke am besten steht - in Nürnberg hängen. Ja müssen wir denn als Schnecken-BSE-Patienten so lange auf anderen herumrutschen, bis wir gar nicht mehr wissen, ob das nun unser Schleim ist oder der unseres angeblichen Feindes? Es wird nicht funktionieren, vor dem Schleim des anderen stehenzubleiben und keinen Schritt zu gehen, bloß weil wir Angst haben auszurutschen oder sogar im System des anderen ein Bein oder den Kopf zu verlieren. Das ist das Problem unserer Mitte oder der Mitte in Berlin: Die Touris nehmen überhand. Selbst "Elementarteilchen" wird zum angeblichen Sieg der Mitte, weil alle BSE-Schnecken der inneren Mitte Mut schöpfen und von Forderungen sprechen: "Ein gutes Elementarteilchen wäre, wenn Wuttke noch mehr springen würde oder Fritsch noch mehr hecheln." Das ist aber nicht die Mitte, um die es geht. Das ist die Mitte der Dorfdeppen, die ihre eigene Mitte verloren haben und nicht mal darunter leiden. Ein tödlicher Vorgang für einen Superkrebs! Nicht nur hier, sondern im gesamten Bereich der Selbstoperation. Endlich im Zentrum der Mitte; denn an der Grenze sein bedeutet die Mitte zwischen zwei Systemen suchen. Hört sich schwierig an, ist aber ganz einfach. Stellen Sie sich vor, Sie fühlen sich in der Mitte und definieren diese Mitte als Grenze zwischen zwei Welten. Dann sind auch Sie Grenznutzenforscher, weil Sie spüren, daß die Mitte im Idealfall die Grenze zwischen zwei Welten bedeutet. So einfach ist das und so schwer für alle, die glauben, sie kämen am Leben vorbei. Leben heißt im besten Fall Selbstentblößung. Denken Sie immer daran: Für eine Operation müssen Sie sich entkleiden! Hygiene verlangt das. Und was Sie einem äußeren Einschnitt in ihr Leben zubilligen, sollten Sie auch der inneren Schnitthygiene erlauben. Zahlen Sie 1400 Mark pro Schnittag an MTV, sonst wird das nix. Selbst wenn sie 1400 Mark pro Schnittag bezahlen müssen, um ihre eigene Operation zu beobachten. Das ist das, was Dr. Giglinger von mir fordert. Nicht schlecht für ein System, das angeblich weiß, wo die Mitte liegt, auch wenn man sie nicht messen kann. Das wird noch hart für MTV, wäre da nicht das unendliche Glück der Lovesick-Society am 17. Februar in Berlin. Das Startzeichen ist gerade gefallen!

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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