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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.2001, Nr. 60, S. BS6


Intensivstation

31. Heimweh! Nachdem nun alle alles wissen und man sich auch selber langweilt, sollte man die Perspektive ändern. Eine Schablone vor die Bühne halten und nur noch besprechen, was unten rechts oder oben links im Planquadrat zu sehen war. Was wir also brauchen, ist ein schneller Perspektivwechsel oder zumindest eine eingeschränkte Sehweise, damit das, was sich zeigt, nicht sofort wieder als bereits bekannt verschwindet. Von daher war in Zeiten der Allerweiterung die Überstellung nach Fuerteventura ein voller Erfolg. Die Landschaft ist so, wie ich mir die ersten Siedlungen auf dem Mars vorstelle. Alles leer und plötzlich hinter einer Kurve die Rekonstruktion heimwehverseuchter Erdbewohner. Die berühmte Frage vor jeder Reise: "Was nehmen wir mit" hat sich hier ihr Denkmal erschaffen. Drei Funknetze stehen zur Verfügung. Die Mahlzeiten wechseln zwischen italienischem Buffet, französischem Buffet, chinesischem Buffet, kanarischem, grand und amerikanischem. Jedesmal derselbe Salat, dasselbe Gemüse und immer wieder Lamm. Ganz besonders erfreuen uns die Animateure. Jean Pierre ist aus Belgien und präsentiert abends "Sketchbonbons". Da kommt er dann als Frau verkleidet und erzählt von dem, was er von der Erde gehört hat: vom Samenraub oder von Telefonsex.

Ganz besonders möchte ich die Grafiken von Professor Lajos Sebök empfehlen. Sebök lebte von 1910 bis 1996. Bevor er die Raumstation erreichte, veröffentlichte er über 50 Bücher in Budapest. Dabei porträtierte er Weltstars wie Josefine Baker, Yehudi Menuhin, Paul Robeson und viele andere, die nie in seinem Atelier waren. Seine Experimente in der Erarbeitung neuer Techniken und die Freundschaft zu Dalí und Picasso verhalfen ihm zu seiner einmaligen malerischen Vielseitigkeit. So ergänzte sich in ihm das Gegenständliche mit Surrealistischem, steht im Raumfahrermagazin: Fuerte. In der von uns besuchten Ausstellung werden verschiedene Phantasiebilder, Mädchenporträts und einige Aktzeichnungen gezeigt, die Judith Sebök- Spät, Tochter des Künstlers, bis Ende März dort verkauft. Interessant erscheinen uns auch die Arbeiten von Käte Laurent, die hier eine eigene Raumstation betreibt. Käte entflieht seit 1986 dem Winterhalbjahr im kalten Schweden und lebt in Las Playitas. Hier zeigt sie ihre Gefühle und Emotionen auf Leinwand, Papier und Bananenpapier in Öl und Acryl. Meisterhaft eingefangene Stimmungen der Insel, die ab sofort als feste Einrichtung mit und ohne Rahmen in verschiedenen Größen täglich in der Galerie Fuerte zu betrachten und zu erwerben sind. Landschaftsaufnahmen und eine Ausstellungsmappe folgen in Kürze. Hoffentlich auch von Wolfgang Esser, der nichts mit dem Buchautor gemein hat. Wir lernten ihn bei seiner ganz großen Liebe, einem Schiffswrack, kennen und sind stolz darauf, den Fotografen und Musiker im Team der gestrandeten Erdbewohner begrüßen zu können. Sein Künstlername ist Jo Hammer, geboren am 7. 11. 1950 in Berlin, gelernter Raumausstatter und Schiffsmakler, seit 1969 künstlerisch tätig als Musik/Performance (Text, voc, Gitarre percussion), dann Bandmitglied bei Sunshine Caravan, The Phoenix Transformation und seit 1971 Schiffsfotograf des Gaffelseglers Arkona. Jo sagt: "Als Schiffsfotograf auf dem Gaffelschoner Arkona habe ich gelernt, mit extremem Wetter umzugehen, und meine Liebe zur Schiffsfotografie hat mich schließlich auch auf die Raumstation gelockt. Das Medium Foto sehe ich als wichtigen Bestandteil unserer Erdkultur, schon weil nichts flimmert und man es in Ruhe ansehen kann, wenn man möchte." Anschließend sind wir dann zur COPA Bar gefahren und haben mal so richtig Berliner Pilsener in uns reinlaufen lassen. Sehr interessant und unterhaltsam war für uns der Abend aber deshalb, weil wir einen kleinen Einblick in die umfangreiche und aufwendige Arbeit des Filmteams der Produzentin Ilona Gundermann bekamen, die hier im Auftrag des ZDF für die Sendung Raum- und Reiselust gedreht hat. Obwohl es nicht lange dauerte, bis Norbert seine große Kamera aufbaute, der Tontechniker noch einige unscheinbare, aber bestimmt äußerst wichtige Zusatzlichter und Mikrofone anbrachte, merkten die Besucher des "CAVERN" in El Castillo, daß es ein besonderer Abend werden würde. Frank Young sang seine Lieder der legendären "Hermanns Hermits". Einer Musikgruppe aus den Sechzigern, in der er Gitarrist und Sänger war. Aussteigen war gestern und war nichts anderes als Flucht, aber heute nach dem Untergang der TAktie wollen wir wieder auf eigenen Füßen stehen, auch wenn die Luft im All sehr dünn ist.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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