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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.2000, Nr. 170, S. BS3

Intensivstation

10. In der letzten Woche hat sich vieles verändert. Die 9. Woche in der Klinik war schwer. Langsam bricht die Wahrheit ans Licht: Meine beste Freundin ist nämlich gestorben, aber Pleitgen (Intendant WDR/Köln) geht es mitterweile besser. Lithiumvergiftung. Geht einher mit starkem Durchfall. Praktisch Durchfall ohne Ende. Verantwortlich ist Dr. Bonk. Er hat alles ohne Absprache mit den anderen Ärzten veranlasst. Ein Riesenfehler. Und nur, weil er Angst vor Verachtung hat. Dabei wird ihn dieses Schicksal selber richten. Stationsarzt Bonk wird gerichtet, weil er sich selber richtet. Seine Angst vor Verachtung löst automatisch Verachtung aus. Das ist eine alte Bauernregel. Wir Patienten haben da Erfahrung, weil wir ebenso viel Verachtung erfahren haben wie andere Lob. Und dieses Lob war für die Gelobten weitaus tödlicher als die Verachtung unserer Verachter. Beim Tennis ist das anders. Da gelten Regeln und das Theater tut so, als gäbe es welche. Dabei hat Theater in Avignon gerade mal wieder bewiesen, dass es kein Gedächtnis besitzt. Deshalb klammern sich auch diese armen Theaterkritiker immer an ihr Fachwissen und berufen sich auf ihre Stückausgaben, obwohl Fachwissen kein Wissen ist, denn jedes Wissen beim Tennis ist nur Grundlage, aber noch lange kein Break. Glauben Sie also nicht, dass eine Verachtung schadlos am Verachter vorbeigeht. C. Bernd Sucher, so war in der Süddeutschen Patientenzeitung zu lesen, war der Einzige, der Isabell Huppert in ihrem zwangsheterosexuellen Männerhass verstanden hat. Da hat der Kritiker der hessischen Patientenzeitung es etwas besser. Er hat das Naturgesetz der Lautstärke erkannt, so unter dem Motto: Wer schreit, hat Recht! Wobei ich wieder beim Thema bin: Gestern ist meine allerbeste Freundin gestorben. War ein langer Weg, mein Gott, war das schön, als sie auf meine Station eingeliefert wurde. Allerdings hat sie das nie verstanden. Sie hat immer gedacht, es wäre ihre Station. Es sollte unsere Station werden, aber das ist nicht so leicht, wie viele, die in solchen Patientenzeitungen schreiben, glauben. Meine beste Freundin und ich, wir waren die einzigen im Krankenhaus mit dem härtesten Sex. Das hätten wir auch gut noch weitermachen können, aber sie wollte unbedingt einen sehnsuchtsvollen Film einlegen. Ey, Baby, hab ich gesagt, du bist mein Girl, aber eines muss klar sein, retten kann ich dich nicht! So muss es jeder Arzt vor der Operation rufen: Hey, Kranker, du bist mein Patient, aber helfen kann ich dir nicht! Verstehen Sie? Ich bin kein Arzt! Ich bin nur so wahnsinnig traurig, weil ich die letzten sechs Monate wirklich um sie gekämpft habe. Das war nicht leicht. Immer diese Anfälle und dann der unvermeidliche Kampf um Besserung. Lag oft in meinem Bett und hätte gerne mal ein warmes Wort gehört, aber da kam nichts. Immer nur Vorwürfe, weil nichts half (nichts richtig war). Wahrscheinlich war das ihre eigene Enttäuschung, denn sie war nicht so stark, wie sie geglaubt hat. Auch ich bin nicht so stark und erst recht nicht der Beste. Habe mir oft die Spritzen alleine gesetzt oder auch mal einer Krankenschwester nachgeschaut. Aber passiert ist nichts. Das kann ich beschwören, obwohl wir Katholiken den schönen Satz vor uns hertragen: "In Gedanken, Worten und Werken." Das ist so eine Art Rezept. Das sagt mein Onkel wahrscheinlich auch. Was nun? Alfred Edel sagte kurz vor seinem Tod: "Willst du wieder allein durch die Krankheit gehen oder wirst du wieder nach einem passenden Anschluss suchen?" Antwort: "Wahrscheinlich ja, denn was bleibt einem Patienten schon übrig? Er muss hoffen, dass es wieder gut wird." Doch was ist schon gut? "In einer Zeit, in der alles möglich ist, ist es egal, ob etwas gut ist oder schlecht" (Alfred Edel im Kettensägenmassaker, 1990). Antwort: "Die Zeit ist dieselbe, scheint es, aber die Sehnsucht seit 1990 ist gewachsen." Da hat meine beste Freundin völlig Recht gehabt: "Wir sind verdammt noch mal allein und so stirbt man auch. Sehnsuchtsvoll und vor allem allein!" Wie schade, denke ich, aber wo sie Recht hat, hat sie Recht. PS: Geht aber hoffentlich weiter. Was auch immer . . .

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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