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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.08.2000, Nr. 176, S. BS6

Intensivstation

11. Dramatische Verschlechterung. Nur noch Katastrophen. Der Augeninnendruck meines Vaters ist auf 36 angestiegen. Die letzten Sehnervenfasern werden systematisch zerdrückt. Eine weitere Operation ist kaum noch möglich. Der Experimentalfilmprojektor in seiner rechten Augenhöhle gibt seinen Geist auf. Alle Illusionen zum Teufel. Jedes Experiment umsonst. Die Zeit schafft Ordnung, indem sie die Außenwelt abdunkelt. Innere Ordnung ist dunkel, äußere angeblich hell. Udo Kier sagte immer: Wer im Schatten steht, leuchtet (chinesische Philosophie). Die Frage ist also: Ist innen Ordnung, weil es so dunkel ist?

Dabei ist Depression ein permanentes Schwarzsehen. Also voll in Ordnung? Wahrscheinlich ja, denn das ist wahrscheinlich der Grundstein der Ökonomie. Möchte an dieser Stelle nur an die völlig unterschätzten Untersuchungen von Dr. Carl Hegemann erinnern: Depression und Kapitalismus oder Kapitalismus und Depression. Geldverdienen am Abgrund. An dieser Stelle ein interessanter Beitrag von meinem Bettnachbarn Josef Bierbichler: "Die bürgerliche Gesellschaft hat die Menschenrechte und die Aufklärung zu Eckpfeilern in ihrem Programm erhoben. Jetzt, am fortgeschrittensten Entwicklungspunkt ihrer Epoche, um nicht schon wieder mit ihrem Ende zu spekulieren, muß sie nach den eigenen Maßstäben gemessen werden. (. . .) Der Druck der Verantwortung ist groß, den Demokratie ausübt auf die, die an sie noch glauben, und wird unerträglich, wenn der Glaube hinterfragt wird von der Wirklichkeit der Bilder und vom Zweifel eines Ungläubigen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf, und die, die Verantwortung mittragen wollen, merken den Betrug nicht mehr, der täglich an ihnen verübt wird von führenden Vertretern der Demokratie." Endorphine im Blut und Krebs in der Seele.

Klingt wie "Ansichten eines Clowns" oder "Liebe ist nur ein Wort"; denn "Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" (Förster).

Sie bemerken jetzt sicher unseren Zustand hier auf der Station. Es wird immer intensiver. Depressive Verkapselung, wohin man schaut. Ein Großteil der Patienten ordert bereits per Internet diese Wunderpille Prozac (www.usapharama.com). Dort findet man alles, was schon vor Entschlüsselung des Genoms möglich war: Propecia, Dhea, adonis und dieses Abnehmmittel, dessen Name ich schon vergessen habe, weil es mich mit unter 60 kg nicht mehr interessiert. Aber diese Pille gibt es und das ist gut so. Selbst die Berliner Patientenzeitung hat halbseitige Anzeigen, in denen für Abnehmpillen geworben wird, die genau wissen, wo die Problemzonen liegen. Das Denken und Planen übernehmen die Patientenzeitungen und die Tabletten. Brigitte Kausch-Kuhlbrodt (manisch depressiver Star in meinem Film MUTTERS MASKE) sagt: "Die Ärzte haben uns verraten. Die, auf die wir gesetzt haben. Die ganzen Regisseure, Journalisten und Redakteure." Brigitte ist verzweifelt. Die falsche Dosis hat einen Großteil ihres Sprachzentrums außer Kraft gesetzt. Das einzige, was noch fließend kommt, ist der Satz: "Ich will nicht mehr." Hoffnungsloses Hoffen und schon nach 50 Metern eine Explosion, die in einem Feuerball auf französischem Terrain endet. MEIN GANZ PERSÖNLICHES CONCORDE-INFERNO. Wieder ein paar Reiche weniger. Wer vor einer sechswöchigen Kreuzfahrt keine Zeit hat und deshalb mit der Concorde fliegen muß, hat sich selber aufgegeben, sagt man (Technik- und Erdkrümmungsinteressierte mal ausgelassen). Jedenfalls wird das Trinkwasser im Umkreis eines Friedhofs enorm belastet. Auch das müssen wir als zukünftige Leichen in unsere Überlegungen miteinbeziehen. Unser Technikglaube stammt aus den fünfziger Jahren, als die Concorde konstruiert wurde.

Das Sterben haben wir aber schon früher gelernt . . .

PS: "Einen Tag später landete in London ein weiterer Container und trug 58 abgestorbene Embryonen in seinem Bauch" (Bierbichler). Ein trauriger Vorgang, der uns Patienten trotzdem ein bißchen Hoffnung gibt. Wir brauchen nicht mehr reisen. Wir sind die Reise selbst, bleiben im Klinikcontainer und sterben da, wo wir gerade liegen. Es sei denn, Schily und Konsorten planen bereits die Abschiebung von Patienten, weil die Bombenexplosion in Düsseldorf längst nicht so spekulativ und erschütternd war wie der Absturz der Concorde. Dr. Schily . . . Sie haben uns alle verraten!

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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