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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.09.2000, Nr. 204, S. BS8

Intensivstation

14. Wie gestern schon gesagt: Das Ende der SPD steht vor der Tür. Die CDU wird überleben, denn sie ist mittlerweile dermaßen in Westernästhetik erfahren, daß sie selbst den Welterfolg "Titanic"überholen wird. Der Western wird auferstehen und zwar als reinste aller Kunstformen. Es lebe Howard Hawks und nicht der Hawks, den Wenders aus ihm machen wollte, nämlich einen romantischen Schmierbolzen! Hawks ist mehr. Er ist der Harald Schmidt des Western: Ein Showdown ohne Folgen. Deshalb schon hier der prognostizierte Untergang von Howard Hawks. DESHALB LEBE PECKINGPAH. Peckingpah sagt: "Dies ist mein härtester, schonungslosester und perversester Film aller Zeiten" - und er meint es wirklich so.

Genau das wird ein zukunftsorientierter Bundeskanzler sagen müssen, um im Untergang zu überleben. Und nicht umgekehrt. Man kann nicht im Überleben untergehen, auch wenn das die Börse oder n-tv behauptet. Keiner, der überlebt, wird letztendlich überleben. Das ist die Wahrheit! Das ist SPD! Das ist DDR-Besuchen ohne DDR zu sagen. Keiner kommt durch. Härte, Härte, Härte! Whiskey, Whiskey, Whiskey! Gebt endlich auf, die Pferde sind gesattelt. Ich stelle also die Frage, ob die ganzen Machthaber aller Zeiten - es heißt, Hitler saß vor dem Bild Friedrichs des Großen und wußte, es geht zu Ende: "Warte nur kleiner König, dann wird sich Dir die Sonne wieder zeigen." - wissen, was sie da tun? Ich denke schon; denn was nichts ist, ist nichts und es wird nichts. Hitler saß z. B. mit seinen Leuten zusammen, etwas verbissener als sonst, und sagte: "Hier, ich habe Paulus mit der sechsten Armee in Stalingrad, schicken Sie eine Meldung: Paulus durchhalten. Dann führe ich euch meine Freunde vor, daß es sowieso nichts ist. Es ist nichts und es wird nichts. Das führe ich euch vor. Das habe ich euch allen vorgeführt, aber das deutsche Volk war noch nicht reif dafür", hat er in seinem Testament geschrieben. Und deshalb wäre zu überlegen, ob all diese Menschenvernichtungsmaschinen nicht immer diese Ohnmachtsbeschreibungen in sich getragen haben, die ein Anführer, ein Regisseur, ein Redakteur anstrebt, um einem anderen die Ohnmacht zu erklären, die er in sich selber spürt, die ihm als einzige Möglichkeit die Chance gibt zu sagen, ich bin.

Drei Stufen also, die uns vom Bild über das Gewirr der Sehnerven bis hin zu einem neuen Bild begleiten: 1.) Ich habe Angst! 2.) Ich habe keine Angst, also kann ich kontrollieren! und 3.) Ich bin ohnmächtig und deshalb bin ich! Nietzsche hat einen Satz gesagt: "Es gibt Menschen, die ganz zum Mantel geworden sind, die ganz Oberfläche geworden sind", und die verehrt er. Er findet, daß Bizets Carmen ganz Oberfläche geworden ist und deswegen Wagners Tiefsinn ganz überlegen sei. Wagner stehe wie ein Schamane darüber. Offenbach, Bizet sei seine Welt. Das sagt Nietzsche, der nicht ohne Tiefsinn ist. Kann man das Lob der Oberfläche singen? Ja, man kann: UNSERE HAUT MACHT ES VOR. Im Bundestag, auf der Straße, in der Wohnung und auf unserer Station. Unsere Oberfläche, die Haut, ist ein Organ, das extrem großzügig ist. Wenn Sie sich bei Gegenlicht an der Hand nehmen und sie einfach nur drüber reiben, dann fliegen unheimlich viele Schuppen rum. 80 Prozent des Hausstaubs sind Hautpartikel. Vier Tage braucht es, um die ganze Oberfläche zu erneuern. Wenn man nur noch sagt: "Ich bin eine Oberfläche, schaut mich an", dann hat man nichts verstanden. Man muß sich auch als Oberfläche permanent erneuern. Man muß sich auch weggeben können, sich verlieren können.

Wahrscheinlich sind das Elemente des Bundestag-Starkultes. Es sind stillstehende Oberflächen. Die sind nicht zur Zerstörung bereit und haben deswegen nur eine kurze Halbwertszeit. Eine gute Oberfläche ist wie die Haut. Sie gibt sich weg, sie fliegt herum. Komischerweise verjüngt sich der Körper permanent. Alle vier Jahre hat er sich komplett regeneriert. Alle Zellen haben den Auftrag, sich zu erneuern. Nur bei der Kopie der Kopie der Kopie schleichen sich mehr Fehler ein, und das nennt man Altern. Mein Onkel sagt: "Wenn wir 70 sind, wird ein Bürgerkrieg ausbrechen, weil wir merken, es gibt Leute, die werden 180 Jahre alt. Das ist für uns nicht tragbar, weil wir haben nur noch 10 Jahre zu leben. Vielleicht werfe ich es aber schon mit 74 weg." Soll sagen: Es ist gefährlich, wenn ich keine Angst habe. Mit 64 Jahren in der Concorde. Also noch mal: "ICH HABE ANGST/ICH HABE KEINE ANGST, ALSO KONTROLLIERE ICH/ICH BIN OHNMÄCHTIG; ALSO BIN ICH." Das ist der neue Kartesianismus. Der menschliche Körper ist der größte Roman, den wir haben. Darum lassen sie uns alles schreiben, was man auch jederzeit wieder verwerfen kann. Das ist das Ende angeblich sinnvoller Politik.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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