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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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faz27
Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.01.2001, Nr. 5, S. BS3

Intensivstation

27. Erste Eindrücke im neuen Jahr haben folgendes ergeben: Mein Zimmernachbar ist tot. Einer Frau vom Prenzlauer Berg, jetzt Pankow, wurden 4 Finger der rechten Hand abgerissen. Einem Jungen aus Pankow, demnächst Wedding, wurde ein Auge zerfetzt. Mehrere Hunde haben ihr Gehör verloren. Vor meinem Zimmer sind Brandspuren. In der Nacht erscheint mir ein Polizist, den Joschka Fischer zusammengeprügelt hat. Er fordert mich auf, ihn zu beschimpfen, und redet von unerträglichen Kopfschmerzen seit 1968.

Auf der Neurochirurgie wurde ein Mann eingeliefert, der seit 1989 Durchfall hat. Meine verstorbene Tante ist bereits 1976 an BSE erkrankt. Der Gesundheitszustand des Papstes hat sich verschlechtert. Mein Vater hat Gallensteine. Mutters Knie ist angeschwollen. Mein Nacken ist gelähmt. Schwester Anke ist Vollalkoholikerin. Hat mir sechsmal in den Arm gestochen. Zum Glück war es der taube Arm. Das Blut verschmierte das Bettuch. Vor Schreck habe ich aufgeschrien. Eine Patientin hat sich erschreckt. Ihr Herz hat das nicht ausgehalten. Ihr Gehirn wurde vertauscht. Die Brechschalen gehen aus. Ich habe alle umarmt. Silvester war der Teufel los. Man hatte den Pornokanal blockiert. Die erotische Spannung hat sich entladen. Kein Wunder, daß Beton nicht brennt. Frage mich immer noch, ob sich all die Wünsche verwirklichen lassen. Werde ich dieses Jahr gütiger sein als letztes Jahr? Endlich offener, zärtlicher, nicht mehr so aggressiv und cholerisch? Kann ich mich pünktlich verändern? Alle mit Liebe betrachten, die Schreienden streicheln, die Stummen schütteln? Ich will es versuchen. Tief in mir gibt es dieses Bedürfnis. Viele haben dieses Bedürfnis. Manche müssen an härtere Dinge erinnern, um zu beweisen, daß sie nun weicher sind. Aber sind sie dadurch auch ehrlicher geworden? Joschka Fischer geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Warum beginnt er dieses Jahr mit Enthüllungsgeschichten inklusive großkörniger Fotostory? Ist das die Sehnsucht nach Kräften der Vergangenheit oder wie eben schon gesagt das Referenzsystem, um zu beweisen, daß sich was verändert hat? Hat Safranski kapituliert, wenn er Goethe bemüht und sagt: "Wir sollten in Zeiten des Globalismus mit Ignoranz antworten." Ist Fischer ignorant oder faul? Oder sehnsuchtsvoll? Wird er sich zu neuen Zeichen aufschwingen, und wer will ihm schaden? Hat dieser Jemand überhaupt eine Ahnung, daß er Fischer in den Augen vieler Unzufriedener stärkt, die viel lieber die gesamte Staatsmacht zusammenschlagen würden? Glaubt dieser Jemand, wir könnten nicht mehr zwischen früher und heute unterscheiden? Oder soll das vom Neuen Markt ablenken, der sich lieber selber in die Fresse haut? Der waagerechte Krieg funktioniert nicht mehr, der vertikale von oben nach unten auch nicht. Krieg ist in mir oder nicht in mir? Das ist hier die Frage. Ein Jahrtausend der Fragen ist angebrochen. Fragen, die nach Handlung schreien. Die pure Beantwortung will keiner mehr hören. Wir wollen heulende, zuckende Politiker. Das ist das einzige, was uns noch erregen könnte. Und um Erregung geht es doch. Wenn es aber so weitergeht, dann sind die zuckenden Jakob-Kreutzfeld-Patienten demnächst das einzige, was sich noch bewegt. Der Rest sitzt rum und wartet auf die nächste U 3000. Die fährt nämlich weiter. Das steht nun fest. Dank Fischer und seiner Sehnsucht nach zielloser Revolution.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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