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INTENSIVSTATION Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Neue Seite
Berliner Seiten |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.2000, Nr. 298, S. BS3 |
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Intensivstation
26. Liebe Leserin, lieber Leser, auf diesem Wege wünsche ich Ihnen im Namen aller
Patienten ein ruhiges und gesegnetes Weihnachtsfest. Sicher werden Sie im Kreise Ihrer
Familie oder zumindest im Kreise Ihrer Freunde oder ganz allein in Ihrem autonomen
Einflußbereich Weihnachten feiern. Wir bewundern Sie! Wir beneiden Sie! Und dennoch
wissen wir, daß wir mit Ihnen spätestens gegen 16.00 Uhr in Gedanken vor dem Fernseher
sitzen oder liegen und die vorproduzierten Sendungen ansehen werden. Wenn Sie dann die
Geschenke auspacken, bekommen wir vielleicht zur Feier des Tages eine Sonderinfusion. Die
schönen Krankenschwestern bringen uns Schlaftabletten, der ein oder andere verbringt die
Geburtsstunde Jesu unter dem Messer. Wir nennen das die vorgezogene Kreuzigung. Dann
ziehen wir unsere OP-Hemdchen an, lassen uns mit Betablockern einstimmen und fahren unter
dem Glockengeläut der Papst-Übertragung im Angesicht des österreichischen
Weihnachtsbaums zum OP. Der eine winkt uns mit seinen Krücken zu, der andere schließt
die Augen und kommt gegen 20.00 Uhr in den Kühlraum, damit er - wenn er Glück hat - bis
zum 2. Januar über der Erde bleiben kann. Solche Höflichkeitsgesten verbinden uns. Sie
gehen zur Christmette, wir zum Kühlhaus. Hoffentlich liegt Schnee. Hoffentlich können
wir alle die ganze Scheiße des letzten Jahres für einen Augenblick vergessen. Das kleine
Jesukind, der Frischgeborene in der Krippe, wir im Bleisarg oder auf der Intensivstation oder im Sechsbettenzimmer. Der Chefarzt ist in
Kaprun, fährt Ski, bestaunt den Kaminrock seiner Frau, schießt am ersten Weihnachtstag
ein Wild. Auf uns schießt nur der Assistenzarzt. Nun kann er zeigen, was in ihm steckt.
Er muß entscheiden, wozu der Chefarzt keine Zeit mehr hatte. Tod oder Leben. Leben oder
Siechtum. Schmerzen haben wir alle. Und wenn dann um 22.00 Uhr im Deutschlandradio
"Großer Gott wir loben Dich" zu hören ist, dann beten wir für all die
Atheisten im Osten, die andere Signale brauchen, um zu verstehen, daß man im Dunkeln
eines abgesoffenen U-Boots kaum noch schreiben kann. Wer ziellos durch die Gegend
schippert oder ziellose Ziele als sinnvoll erachtet, gehört auf den tiefsten Punkt der
Erde, den Grund des Meeres. Da haben wir wochenlang um unsere Befreiung gekämpft, um
selbständig in Freiheit zu heucheln, und jetzt stehen wir im Schlafanzug im Stationsgang
und blicken aus dem Fenster. Irgendwo da draußen ist Frieden. Hier drinnen ist der Krieg.
Wir warten auf den Angriff und halten uns die Krücken. Weihnachten gilt als Versorgung
eines Systems, das sich Heucheln auf die Fahnen geschrieben hat. Also ein System haben
wir, aber kaum noch Versorgung. Es könnte alles so schön sein. Wir hatten so große
Ideale. Kinder wurden auf Bäumen geboren, einige Skifahrer haben im Tunnel überlebt,
Schrempp ist so offen zu den Aktionären, das Genom ist endlich entschlüsselt. Und dann
diese blöden BSE-Fälle. Kalb gilt bei uns als die optimale Versorgung bei Leberschäden.
Leber okay, Hirn durchlöchert. Was dem einen sein Töpfchen, ist dem andern sein
Deckelchen. Oh mein Gott, warum hast du uns verlassen? Wir wollen nach Hause. Wir wollen
unsere Fehler vor uns und nicht mehr nur in unserem schlechtkombinierten Genom erkennen.
Wir wollen die weinenden Herzen unserer verlassenen Frauen trösten, das Heucheln unserer
Eltern unterstützen, die neue Familie beschenken und ein Christkind machen. Doch jetzt
sitzen wir da und wissen nicht mehr weiter. Das neue Jahrtausend hat grauenhaft begonnen.
Die Entschlüsselung des Genoms sollte Klarheit, Sauberkeit, Transparenz schaffen und hat
nur Verschmutzung gebracht. Die Eltern hatten uns endlich akzeptiert und sind nun in die
Steinzeit abgehauen. Der Rinderbraten wurde durch Salat ersetzt, und auch der steht im
Verdacht, mit BSE-Dung gefüttert zu sein. Ich glaub', ich hau' ab. Wenn da nicht die
Illusion wäre, daß es demnächst eine Familie geben würde, mit Frau und Kindern, und
wir würden Weihnachten feiern bis es kracht. In diesem Sinne wünscht Ihnen ein frohes
und trauriges Fest Ihr
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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