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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.2001, Nr. 218, S. BS3


Intensivstation

41. Heute nacht waren zwei unserer liebsten Patienten in der Sendung "Nachtstudio mit Dr. Panzer". Rainald Goetz und Moritz von Uslar hatten die Station bereits gegen 22 Uhr verlassen und waren schminktechnisch versorgt worden. Als selbsttherapierender Gast war Klaudia Brunst anwesend. Das Ganze geht um TV-Sendungen, die wir im Krankenhaus-TV sehen dürfen. Ein Großteil der Kanäle ist verschlüsselt und nur bei guter Führung zu empfangen, am beliebtesten sind momentan die Übertragungen von Live-Operationen, also der Moment, wo der Patient nicht mehr weiß, wie ihm geschieht. Und so eine Sendung war das.

Goetz leidet unter ständigem Leidenmüssen. Uslar hat Probleme, die Geschwindigkeit seiner zum Teil großartigen Texte in Sprache umzusetzen. Zwei liebenswerte Zimmernachbarn, die nur durch ihr Fernsehgeglotze in der letzten Woche negativ auffielen. Gegen den Widerstand von sechs Zimmergenossen mußten wir den IQ-Test, Beckmann und eine Tierheimsendung anschauen, damit die beiden vor mehr als 20 000 Zuschauern - mehr schauen zu dieser Zeit nicht mehr zu, weil die meisten am nächsten Tag eine Operation vor sich haben oder Angst haben, aufgrund eines terroristischen Akts in eine außerhalb gelegene Klinik verlegt zu werden - bereits schlafen.

Das Ganze begann entsprechend anständig, weil sich keiner mehr leisten kann und will, die Geschehnisse in New York und Washington außer acht zu lassen. Leider verfehlte die Sendung den zentralen Kern ihres Auftrags, weil keiner der Anwesenden, außer Frau Brunst (Fernsehkind nach eigenen Aussagen und zwei Jahre älter als das ZDF oder jünger als das Fernsehen im großen und ganzen), bemerken wollte, daß der Live-Moment einer Katastrophe die einzig akzeptable Meßlatte für jedes noch so realistische Fernsehereignis darstellt. Gerade im Leben eines konditionierten TV-Schauers, der sich auf heuchelnde Talkgäste, auf Entwertungsmechanismen wie Big Diet oder IQ eingelassen und somit spezialisiert zu haben glaubt, sollte den Moment der Indifferenz in vollen Zügen genießen und in seine Auswertungen mit einbeziehen.

Was bedeutet das eigentlich, wenn man feststellen muß, daß die "wahre" Explosion eines Passagierflugzeugs in einem Hochhaus genauso aussieht wie die Explosionen in "Independence Day"? Was passiert da eigentlich? Muß man in so einem Moment auf die einschüchternden Vorlagen eines Dr. Panzer mit blödsinnigem Gefasel reagieren, bloß weil die Zeit davonrast? Haben die Teilnehmer der Sendung Angst, daß der Lerchenberg einstürzt, und sind sie mit dieser Angst nicht genauso kamikazehaft in die TV- Maschine gerast wie die den Horror verursachende Maschine?

Das Interessante an so einem Moment ist doch die Irritation, daß das, was TV ausmacht, nämlich die Rekonstruktion oder die Rekapitulation von Gefühlen, von angeblicher Aufrichtigkeit, von Aktualität in geschnittener Form, durch ein tatsächliches und noch nicht bearbeitetes Phänomen den Urzustand erzeugt. Urzustand im Sinne von Erleben und das wiederum im Sinne von Überforderung: Da rast eine Lokomotive auf die Betrachter zu, und sie verlassen schreiend das Kino. Da können Buschleute beim Betrachten von Schuß und Gegenschuß der Filmhandlung nicht mehr folgen, weil das bereits abgespeicherte Hirnmaterial durch das abstrakt bearbeitete Material plötzlich an Logik verliert. Das ist das, was diesen Moment als Meßlatte ausmacht und somit definiert. Statt dessen redet man von Asynchronität im Sinne von Dritten, nämlich Journalisten, die noch nicht wissen, daß das, was sie gerade beschreiben, bereits durch einen zweiten Crash überholt und ihre Beschreibung somit unwahr wurde. Interessant ist aber die Rückkehr des aufgeklärten, sich durch bereits bewertete Häppchen definierenden Betrachters, der erkennen muß, daß es mehr zu erkennen gibt als das, was er bereits zu kennen bereit ist. Damit meine ich den jämmerlichen Zustand eines angeblich geschulten Betrachters, der bereits alles kennt und in seiner Abgeklärtheit vergißt, daß jedes bereits beschriebene Phänomen im TV nur noch in einer Variation vorkommen darf, obwohl die höchste Form einer Erkenntnis nach physikalischen Gesetzen nicht nach Variation, sondern nach Transformation verlangt. Somit stilisiert sich der auf- und abgeklärte Intellektuelle in seiner angeblich kritischen Beurteilung von TV-Sendungen nur noch als Abstands-Tiger, der langsam verhungert, weil ihm zum Angriff der Mut fehlt und er vergißt, daß er im Zusammentreffen mit Fernsehkameras seiner paranoiden Erotik den Dolchstoß versetzt hat.

Angriff heißt nicht, die Dinge im Zehnminutentakt zu widerlegen, sondern den Moment abzupassen und zu untersuchen, wo das eigene Bild vom selben Bild in Frage gestellt wird. In der Abgeschiedenheit seiner Glotze kann er gestalten, aber im Moment seiner fernsehmäßigen Ausgesetztheit rast er vor lauter Angst vor seiner eigenen Authentizität ins nächste Hochhaus und somit ins Entsetzen des Betrachters, der zwar entsetzt ist, sich aber im Kern noch Schlimmeres vorstellen konnte. Das nennt man "den Nebel von Manhattan".

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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