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INTENSIVSTATION
Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


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Berliner Seiten Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.2000, Nr. 127, S. BS3

Intensivstation

4. Die Höflichkeit ist ausgebrochen. Letzte Möglichkeit vor der Todesautobahn. An der Krankenhausrezeption der Virchowklinik ist für mich ein Kranz abgegeben worden. Absender Volksbühne. Auf dem beiliegenden Brief die kurze Meldung: "Sehen uns spätestens beim Steuerjahresausgleich wieder, Gruß, die Verwaltung."

Auf der kardiologischen Ambulanz führt ein Mann seine Frau zum Schafott. In den 40 Jahren ihrer Ehe kam es zu einer perfekten Hundeausbildung. Das herzkranke Frauchen wird unterwürfig betreut. "Soll ich die Jacke nehmen? Ja? Soll ich die Jacke nehmen?" Im Winselton. Hündchen ahnt, dass Frauchen bald verschwunden ist. Alles umsonst. 40 Jahre Selbstverleugnung für ein hässliches: "Halt die Klappe." "Wo ist der Schwanz, wo ist der Schwanz?" fragt Frauchen und hält ihm die bis zur Farbunkenntlichkeit gewaschene Jacke entgegen. Dankbarkeit durch Erniedrigung.

In der Klinik ist der Krieg ausgebrochen. Viele sind tot, viele untot. Mich haben sie jedenfalls noch nicht beerdigt. Im Aufzug schreit eine Frau, auf dem Gang ist ein Mann zusammengebrochen. Angeblich soll Peymann eingeliefert worden sein. Herzkollaps, Bluthochdruck, Abtreibung, Implosion. Widersprüchliche Nachrichten in einer Zeit, in der alles so klar ist. So eine Intensivstation hat immer die falschen Nachrichten, weil das das einzige Lebenselixier ist, was den Todgeweihten bleibt, ganz im Gegenteil zur angeblichen Transparenz da draußen vor dem Tor.

Alles ist klar, die Augen verschwimmen. Dr. Herz führt mir einen fingerdicken Schlauch in den Hals. Endlich! Die seit zwei Wochen angekündigte Magenspiegelung findet statt. Der Bauch wird mit Luft gefüllt, bläht auf und startet dann einen so gewaltigen Rülpser, dass die Haare der Krankenschwester nach hinten fliegen. Ich habe verlernt zu atmen. Jedenfalls durch die Nase atmen ist plötzlich vergessen, und dann die ersten Bilder aus meinem Innern. Hautsäcke, Furchen, helle und dunkle Teile, Tag und Nacht. Irgendwo auf den verschwommenen Bildern erscheinen dank der neuen Phantasie (neuen Medizin) meine Eltern, Alfred Edel und einige Szenen aus meiner Jugend: Ein Vogel hüpft auf einen Ast, ein Bauernjunge zeigt mir einen Bunker, Alexander Kluge macht Zeitrafferaufnahmen im Bundestag. Alles in meinem Magen.

"Wir müssen die Ansichten der Welt verändern, denn dadurch können wir die Welt verändern", sagt der in meinem Bauch filmende Arzt. Wer hätte schon gedacht, dass nichts verloren geht. Da kann die Genomforschung machen, was sie will, im Innern wohnt die Vergangenheit und das haben schon viele vergessen. Darum hat das Theater auch keine Zukunft, weil es nur noch an morgen, an die nächste Premiere denkt. So was ist phantasielos. Phantasie ist nicht mit Zukunft zu verwechseln, Phantasie ist eigentlich Vergangenheit. Und das hat die Expo nicht verstanden; und die Expo ist wie Theater. Sie hat absolut nichts mit dem Leben zu tun.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF


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