Unterwegs im Ich (Die ZEIT)

Veröffentlicht am Autor admin

Talkshow, Trash und Drama – der »Animatograph « ist in Wien angekommen, und sein Erfinder Christoph Schlingensief wirft nach Auftritten in Afrika, Island und Deutschland die große Weltbildmaschine nun auch im Burgtheater an.

Eine höchst artifizielle, kulturgesättigte Passions- Geschichte vom Leiden & Sterben, von Lebenslust & Lebensqual. Alles kreist auf der Bühne und im leer geräumten Parkett, die Sinne rotieren im Labyrinth der Zelte, Gänge und Buden, aus Beuys’ aufgerissenem Maskenmaul flimmert die Ikonengeschichte des Hasen von Dürer bis Wagner. Und vor allem wird viel gelacht! Befreit gelacht über die Hitler-Obsessionen mit Gorillas und Schimpansen in NS-Uniform, über den selbstbefriedigten Hitler-Stalin-Pakt via Sachertorte, und am Ende spielt der GröFaZ in seiner Führerloge einen Wiener Walzer auf der Mundharmonika.

Fotografiert von einer klitzekleinen

Leni Riefenstahl, bemoonwalkt von Michael Jackson, betaktet von der ganz realen Patti Smith mit Oboe. Bedüdelt von einem hinkenden Hermann- Nitsch-Double. »We are a factory«, konjugiert Andy Warhol, singt: »Alles verfilzt in diesem Burgtheater!« Ein wilder Mythen-Synkretismus zwischen Karussell und Geisterbahn entfacht einen furiosen Parcours der Darstellung. Kein Medium, kein Material bleibt unverwendet, Installation, Environment, Fettecke und Fellhase, Spiegelkabinett und Wandzeitung, Videos plus Mikros, Kasperle und Scherenschnitt – alles zusammengehalten im fließenden, fliegenden Übergang von Sinn und Unsinn. Polyglott und polymedial. Was für ein Kontrast zwischen der zwingenden Vitalität des Christoph Schlingensief und dem halbtoten Text-Torso einer Bildschirm-Jelinek, deren Gesicht bühnenrahmenhoch auf ein Riesenrad projeziert ist. Von dort oben wienert sie herunter, eine ihrer berüchtigten »Textflächen«, für Area 7 eigens verfertigt. Im gewohnten Tunnelblick auf die Welt, diesmal auf die dritte, heideggert sie zum Thema Afrika herum. Diese Labermaschine verbaler Inkontinenz via Video lässt kein Gutmenschklischee aus und stört. Stört das Energie- Spiel von Witz und Kraft. Ein Spiel, das in seinem ganzen Chaos konzis entfesselt wird durch den Performator Schlingensief.

Gebannt läuft das Publikum in den aufgebauten Gehirnwindungen und in den inszenierten Imaginationskammern seines Schöpfers umher. Tausend kleine Events, Segmente, Splitter, akkumulierte Clips, die sich zusammenpuzzeln zu einem Kosmos, den nicht mehr der liebe Gott regiert, sondern »Sado-Christ«. Rotzfrech persifliert Schliengensief die Schätze der Kunstgeschichte, püriert das Erbe und führt die Wiener Aktionisten vor, plärrende Bettnässer auf dem Bildschirmlein im Puppenwagen, das Nitsch-Double als Säugling des Großen Fressens.

Die Neuroexpedition durch menschliche und mediale Wahrnehmung reiht Pupille, Kamera und Bildschirm nebeneinander. Führer durch dieses Inferno ist die chorische Strenge der Bachschen Matthäuspassion. Und wer die leibhaftige Arche Noah in Schlingensiefs Burg besteigt, der begeht mit dem Weltzustand zugleich das eigene Ich. Peter Roos

(c) DIE ZEIT 26.01.2006 Nr.5