Der letzte Künstler (FALTER)

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Autor Wolfgang Kralicek

Der Dramaturg Joachim Lux sitzt in seinem Burgtheaterbüro und freut sich, dass unten auf der Bühne das Chaos regiert. Der deutsche Regisseur Christoph Schlingensief bereitet gerade seine aktuelle Produktion vor, und eine Woche vor der ersten Vorstellung ist bisher nur klar, dass nichts klar ist. Immerhin hat man sich inzwischen auf einen Titel geeinigt. Das ursprünglich als „Sadochrist Matthäus“ angekündigte Projekt hieß zwischenzeitlich „Area 7“ beziehungsweise „431. animatographische Expedition“, die endgültige Version lautet jetzt „Area 7 – Matthäusexpedition“. Wäre es nach Schlingensief gegangen, der Titel wäre seit dieser Entscheidung noch drei Mal geändert worden. „Im Sinne des Projekts wär’s auch richtig, jeden Tag einen neuen Titel rauszugeben“, meint Lux. Aber auch so ist alles schon kompliziert genug.

„Das ist weniger als alles, was wir bisher gemacht haben, eine Theateraufführung“, schwärmt der Dramaturg. „So etwas hat’s hier noch nicht gegeben!“ Der Schauspieler Martin Schwab äußerte sich in einem Presse-Interview weniger angetan: „Schlingensief ist ein wichtiger Ideenspender. Aber er kann ebenso gut in einer Halle oder in einem Container auftreten. Und wir könnten in dieser Zeit im Burgtheater etwas anderes machen.“ Haben Aktionisten wie Hermann Nitsch, der im Burgtheater unlängst einen Stier ausweiden durfte, oder Schlingensief hier nichts verloren? Irrtum, meint Joachim Lux: „Gerade eine Institution wie das Burgtheater muss seine Mechanismen immer wieder infrage stellen. Wenn es das nicht tut, ist es künstlerisch tot. Und dieses Projekt stellt wirklich alles infrage: Hier gibt es nicht nur keine Proben im landläufigen Sinne, es gibt auch keine ,Premiere‘ und also auch keine ,Folgevorstellungen‘, sondern eine Art Organismus, der wie ein Meteor in unser Theater eingeschlagen hat und sich ohne Rücksicht auf Konventionen ständig selbst verändert. Dagegen war ,Bambiland‘ ein normaler Theaterabend!“

Im Dezember 2003 hatte Christoph Schlingensief mit der Uraufführung von Elfriede Jelineks „Bambiland“ – einem Text zum Irakkrieg – sein Burgtheaterdebüt gegeben. Es handelte sich unter anderem deshalb um eine unkonventionelle Uraufführung, weil von Jelineks Text nur noch Spurenelemente übrig geblieben waren. Stattdessen ergoss sich eine Flut von Bildern – vom Pornofilm bis zur Fronleichnamsprozession – über die Bühne, die zugleich Filmleinwand war. Die Autorin reagierte auf diese Zumutung nicht etwa beleidigt, sondern begeistert: Schlingensief hatte ihre Collagetechnik von der Literatur ins Theater übersetzt, Jelinek fühlte sich verstanden.

Sammlung Schlingensief

Zwei Jahre nach „Bambiland“ ist Schlingensief wieder am Burgtheater engagiert. In der Zwischenzeit hat er in Bayreuth „Parsifal“ inszeniert, eine Drehbühnenkonstruktion namens „Animatograph“ entwickelt und in Namibia einen Film gedreht. Videos und Versatzstücke aus all diesen Projekten fließen in die aktuelle Burgtheaterarbeit ein. Ein Probenbesuch bestätigt, dass „Area 7“ mit einer Theateraufführung tatsächlich wenig zu tun hat: Bühne und Parkett des Theaters sind mit einem Labyrinth aus lauter kleinen Räumen verbaut, das man wie ein Museum („Sammlung Schlingensief“) durchwandert; das Publikum wird in Kleingruppen durch den Parcours gejagt.

Hektisch führt Schlingensief ein paar Reporter durch die Installation. Auf einer kleinen Drehbühne kommen die nordische Sagenwelt und die Mythen des Burgtheaters zusammen; es gibt ein „Kriegerdenkmal“ für Joseph Beuys und ein „Urklo“, in dem die sogenannte „Scheißgeschwindigkeit“ gemessen wird („300.000 Kilometer in der Sekunde – Lichtgeschwindigkeit ist Scheiße!“); in einer kleinen Kapelle liest Elfriede Jelinek im Video einen Text, den sie für Schlingensief geschrieben hat; in der „Ionendusche“ thematisiert der Künstler die Frage, warum wir Teile der Stratosphäre noch messen können, obwohl sie eigentlich schon tot sind. „Das soll mir mal einer erklären!“

Die Reporter kapieren nichts, aber das haben sie mit den Schauspielern gemeinsam, die alle etwas ratlos herumlungern. Das illustre Ensemble – unter anderem sind Fassbinder-Diva Irm Hermann, Jungstar Robert Stadlober („Crazy“), Beatles-Übersetzer Klaus Beyer und Bernhard Schütz von der Berliner Volksbühne dabei – wird sich wohl mit Statistenrollen begnügen müssen. Burgschauspieler Hermann Scheidleder ist als Hermann Nitsch verkleidet und beobachtet mit vor dem Bauch verschränkten Händen das Geschehen. Als Falter-Fotograf Heribert Corn ihn gemeinsam mit Schlingensief fotografieren möchte, ruft der Regisseur einen anderen prominenten Künstler herbei: „Jonathan! Wo ist Jonathan Meese?“ Aber der ist schon in der Garderobe, und wir werden nie erfahren, ob Schlingensief den echten Jonathan Meese gerufen hat oder nur einen Schauspieler, der Meese darstellt.

Alles dreht sich

Der gelernte Filmemacher Schlingensief, der seit 1993 hauptsächlich im Theater arbeitet, hat seiner Arbeit ein neues Feld eröffnet: die bildende Kunst. „Dass ich kein Theater mache, habe ich mir ohnedies ständig anhören müssen“, sagt Schlingensief in einem kurzen Interview nach der Probe. „Und ich habe gemerkt, dass mich diese Form ,Der Vorhang geht auf und ich spiele was vor‘ im Moment nicht so interessiert. Ich mag auch nicht mehr hingehen und ,Meine Eltern! Meine Eltern! Meine Eltern!‘ schreien. Ich glaube schon, dass das, was ich hier mache, politisch ist, aber eben nicht mehr im Sinn der Partei oder des Containers.“ Die Burgtheater-Installation wirkt wie ein fantastisches Privatuniversum und viel hermetischer als frühere, zum Teil sehr direkt-agitatorische Arbeiten Schlingensiefs; dass aktuelle Ereignisse nicht verwurstet werden, wundert ihn selbst ein bisschen. „Susanne Osthoff zum Beispiel, die hätte ich früher mit Kusshand genommen!“

Früher hatte Schlingensief den Künstler nur gespielt; in „Bambiland“ etwa trat er als Aktionist in Erscheinung, der vor den kritischen Augen seiner Mutter („jetzt kommst du mit der Kettensäge, das ist uralt!“) das Mobiliar zertrümmerte. Mittlerweile werden seine Performances auch von Kunstinstitutionen finanziert, und seit drei Jahren steht er bei einer der renommiertesten Galerien Europas, Hauser & Wirth in Zürich, unter Vertrag. „Wir sind schon lange fasziniert von seiner Arbeit“, sagt sein Galerist Marc Payot über den Künstler Schlingensief. „Der gesamtheitliche Ansatz seiner Arbeit, diese Aneignung kunstgeschichtlicher und politischer Aspekte, das entspricht genau dem, wie wir arbeiten.“

Der 45-jährige Schlingensief, der sich explizit auf Ikonen wie den deutschen Kunstschamanen Joseph Beuys (1921–1986) oder den Schweizer Fluxuskünstler Dieter Roth (1930–1998) beruft, wirkt immer stärker wie ein Wiedergänger des eigentlich längst ausgestorbenen Typus Universalkünstler. Egal, ob er eine Partei (Chance 2000) oder eine Religion (Church of Fear) gründet: Alles, was Schlingensief angreift, wird Kunst. Mit seinen großen Vorbildern aus den Sixties teilt er auch den Dilettantismusverdacht, unter dem seine Arbeit steht. „Ich hab immer das Gefühl, man muss das erst mal so dilettantisch hinkriegen wie ich. Ich kenne Operndirektoren, die wissen schon jetzt, was sie 2012 spielen – das ist für mich dilettantisch!“

Ausgerechnet sein Operndebüt in Bayreuth, wo er 2004 „Parsifal“ inszenierte, ebnete Schlingensief den Weg in die Kunstwelt. Erstens hat ihn das Engagement bei den berühmten Wagner-Festspielen international bekannter gemacht; zweitens gilt die „Parsifal“- Inszenierung, in der die Drehbühne praktisch ununterbrochen rotierte, als Keimzelle für sein jüngstes Steckenpferd, den sogenannten „Animatographen“. Es handelt sich dabei um eine mit Objekten angefüllte und mit Leinwänden umspannte Drehbühne, auf die Filme projiziert werden. Wer sich auf dem Animatographen befindet, sieht einen Film, der sich – das Ding rotiert ja – sozusagen von selbst schneidet.

„Zum Raum wird hier die Zeit!“, schwärmt der Wagnerianer Schlingensief über seine Erfindung, in der Film, Theater und Kunst eine Symbiose eingehen. Zum ersten Mal gelangte der Animatograph vergangenen Mai in Island zum Einsatz (eine verkleinerte Version davon ist jetzt auch Teil der Burgtheater-Installation), ein zweiter Animatograph stand im Sommer auf einem ehemaligen DDR- Militärflughafen in Neuhardenberg bei Berlin (davon sind im Burgtheater Videos zu sehen). Das erste Objekt befindet sich im Besitz von Francesca Habsburgs Thyssen-Bornemisza-Stiftung, das zweite wurde an einen Hamburger Großsammler verkauft und wird ab März in einem Leipziger Museum zu besichtigen sein. Der dritte Animatograph wurde im Herbst in Area 7, einer Slumsiedlung in Namibia, aufgebaut.

Fitzcarraldo in Afrika

In „Bambiland“ geisterte Schlingensief als Kreuzung aus Messias („meine Lösung heißt Erlösung!“) und Fitzcarraldo („ich will eine eigene Oper bauen!“) durch die Inszenierung. Zwei Jahre später hat er zumindest die Fitzcarraldo-Fantasie ausgelebt. In Werner Herzogs Film lässt ein von Klaus Kinski dargestellter Opernfreak in Südamerika ein Schiff über einen Berg schleppen; Schlingensief hat ihm das jetzt in Afrika nachgemacht. Im vergangenen Oktober reiste der Regisseur nach Namibia, um dort – acht Jahre nach „Die 120 Tage von Bottrop“ – endlich wieder einen Spielfilm zu drehen. „African Twin Towers“ war ursprünglich als Satire geplant, in der Schlingensief sein Bayreuth- Trauma aufarbeiten wollte. Der Plot: Ein provokanter Regisseur wird von der Komponistenfamilie Bach beauftragt, in Afrika die ersten Bach- Festspiele auszurichten; stattdessen inszeniert er mit den Einheimischen ein Stück über den 11. September.

Das Konzept klingt nicht unwitzig, wurde aber noch vor Drehbeginn verworfen. Das Problem besteht nun darin, dass es nie wirklich durch ein anderes Konzept ersetzt wurde. Im Rahmen eines am vergangenen Wochenende im Kasino angesetzten „Infoabends“ berichteten Schlingensiefs Produzent Frieder Schlaich und der Standard- Kulturredakteur Claus Philipp, der an einem Buch über Schlingensief arbeitet, von den chaotischen Dreharbeiten in Namibia. Der Regisseur befand sich in einer permanenten Schaffenskrise und reagierte auf alle Versuche, System in die Sache zu bringen, allergisch. „Christoph wollte endlich einen Film drehen, der keinen Anfang und kein Ende hat“, erzählt Philipp. Zumindest das scheint gelungen zu sein: In drei Wochen sind rund 300 Stunden Filmmaterial entstanden, und niemand kann sich vorstellen, wie daraus ein Film werden soll.

Immerhin hat das Projekt „African Twin Towers“ haufenweise Material für die Burgtheateraktion „Area 7“ geliefert. Im Zentrum der Installation steht der afrikanische Animatograph mit dem acht Meter langen Schiff, das Schlingensief vom Strand in die Slumsiedlung schleppen hatte lassen (wobei im Unterschied zu Fitzcarraldo auch Autos und Kräne im Spiel waren). Auf der DVD, die dem Programmheft zu „Area 7“ beiliegt, sind Bilder von den Dreharbeiten und Interviews mit Beteiligten zu sehen, unter anderem mit Patti Smith. Die New Yorker Punklegende war von der Zeit vorigen Sommer eingeladen worden, über Bayreuth zu berichten, und „Parsifal“ hat sie dermaßen begeistert, dass sie Schlingensief seither überallhin nachreist – auch im Burgtheater wird sie dabei sein. In Namibia begleitete Patti Smith die Dreharbeiten mit einer antiken Polaroidkamera. Der Animatograph erinnerte sie an die Laterna Magica in ihrem Kinderzimmer. „Ich bin hier nur zu Besuch“, sagt sie auf der DVD. „Ich weiß nicht einmal genau, was ihr hier macht. Aber ich glaube daran!“

Demnächst wird Schlingensief am Nationaltheater Reykjavik inszenieren, was ihn vor allem deshalb reizt, weil er die Sprache nicht versteht. „Bei deutschen Schauspielern kriege ich immer so ein Kribbeln!“ Die nächsten Animatographen sollen in Nepal und Brasilien zum Einsatz kommen. „Vielleicht sind dann nur noch Tiere anwesend, ich weiß es nicht.“ Christoph Schlingensief hat eine Vision: Irgendwann stehen irgendwo 120 Animatographen herum. „Und was irgendjemand damit wollte, ist dann nicht mehr die Frage.“ Dass es so weit kommt, ist allerdings unwahrscheinlich: Zum System Schlingensief gehört die ständige Erneuerung, und der Regisseur/Künstler/Aktionist wird wohl bald auch am Animatographen die Lust verlieren. Eher früher als später ist das kreative Perpetuum mobile Christoph Schlingensief mit Scheißgeschwindigkeit wieder unterwegs zu neuen Taten.

Falter 03/2006 vom 18.1.2006