»Alles neu ertasten, wie ein gescheiterter Gott« (ZEIT)

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Christoph Schlingensief hat das Burgtheater okkupiert. Ein Besuch bei dem Rabauken, der plötzlich geläutert erscheint

Von Peter Roos

Das soll die größte Nervensäge des deutschen Polittheaters sein, die da kreuzbrav in der Behelfskantine des Burgtheaters sitzt? Die sich wohlerzogen vorgestellt hat? Das soll der vorlaute Rabauke sein, der kein Mikro auslässt und niemals eine Talkshow schwänzt, um vorlaut den Ober-Provo zu geben?

Drei Stunden mit Christoph Schlingensief an einem provisorischen Biertisch. Denn wie könnte es anders sein, wenn dieser Typ anrückt – die originale Kantineneinrichtung ist abgebrannt. Ihm zuliebe?

Zum Glück hat er seine Brille nicht tussimäßig ins Haar drapiert. Sie steckt im Ausschnitt seines Overalls, den er, schon nach ein paar Arbeitswochen verösterreichert, Gewand nennt. In den Nationalfarben Rot und Weiß bespritzt. Aber nicht skandalös koloriert. Im Gegenteil. Als habe er gerade Muttis Waschküche frisch getüncht. Die Bühnen-Lackschuhe schwarz-weiß wie verrutschte Zebrastreifen. Der Bart drei Tage alt. Grau meliert das Haar im Mecki-Schnitt, moderat zu Berge stehend.

Tief und unschuldig die Augen, warm der Blick, fest und niemals ausweichend. Und unendlich verletzt. Dafür ballt er öfters die Faust mit seinen Handwerkerhänden und stößt den robusten Zeigefinger im Sprechrhythmus auf die gehobelten Bretter des Tisches.

Christoph Schlingensief inszeniert sein Mythenlabyrinth Area 7 an der ersten Bühne des Landes. Vor 45 Jahren im deutschen Oberhausen geboren, Vater Apotheker, Mutter Krankenschwester. Schon als Kind fuhrwerkt er mit der Kamera herum, gründet als Schüler eine Super-8-Gruppe und wird nach dem Abitur zweimal von der Münchner Filmhochschule abgelehnt. Das Germanistikstudium schmeißt er nach sieben Semestern und jobbt sich durch die Cineasten-Szenen. Er dichtet und dreht experimentell Für Elise. Seine Aktivitäten füllen Seiten.
Heute ist Schlingensief bekannt von Bayreuth bis Berlin, von RTL bis MTV, und in Wien ist er vor allem berüchtigt wegen seiner Festwochen-Container, einer medienwirksam umstrittene Sozialinstallation für zwölf Asylbewerber auf dem Platz neben der Oper. Provokant die Publikation dazu: »Ausländer raus – bitte liebt Österreich!«

Überhaupt Wien! Der Tafelspitz mundet ihm, den Mohr im Hemd nascht er und Hollersaft trinkt er literweise. Einen Zeit lang wollte er sogar übersiedeln, aber vor dem Umzug hat ihn der Umgang der Wiener untereinander geschreckt, vor allem aber auch der mit den Piefkes, das ewig intrigante »Hin und Her und Hintenrum«, die deutsche Illusion, man verstünde ohnehin alles in dieser Geschmeidigkeit.

Man werde umworben und umarmt und merkt nicht, dass das Messer schon im Rücken steckt: »Aber die Wiener Messer sind nur aus Marzipan!« Fazit: »Herkommen ist schön. Aber nach sechs Wochen reicht’s!« Denn: »Wehe den auswärtigen Künstlern, die hierher kommen, um geliebt zu werden und die Kurve nicht rechtzeitig kratzen!« Die würden angebohrt und blieben zerstört zurück. Luc Bondy zum Beispiel, der Festwochen-Chef, kolportiere ausgerechnet in der Jüdischen Allgemeinen, dass sein so hoch geschätzter Freund Schlingensief an die Burg abgewandert sei, verschweigend, dass er selbst es war, der das neue Projekt abgelehnt hat.

Überhaupt Theater! »Diese Schnapsnasen, die überall in den Kantinen herumhängen und immer noch erzählen, sie hätten mal Hamlet gespielt!« Die Bühne diene ihm dagegen lediglich als »Arbeitsfläche«, er nutze bloß den auratisch aufgeladenen Ort. Ansonsten sei ihm Theater »nur unangenehm, grenzwertig, peinlich!«

Er könne damit nichts anfangen. Deswegen: »Ganz verdammt selten« ginge er hinein und dann »nur letzte Reihe rechts hinten« auf einem Fluchtplatz. Den ganzen Anstalts-»Sound« mit seinen Küsschens und Hallos könne er nicht mehr vertragen, und diese Regisseure mit ihrer ewig »wahnsinnig interessanten Aufladung« findet er unerträglich. Und die Heroen? Peter Zadek, ein Freund, aber er verstehe ihn nicht; bei Bondy die Kunst immer dreimal dick unterstrichen, und mit Claus Peymann habe er nichts am Hut – für den sei er nur ein Dilettant und ein Blödkopf.

Freilich inszeniert jetzt er an der Burg, während Peymann sich »in den Arsch beißt über seinen Weggang aus Wien und mit seinem wehenden Mantel allein herumsitzt in Berlin, wo ihn niemand mag!« Aber »ein geiles Haus ist das Berliner Ensemble trotzdem, das ich gerne als Intendant übernehmen möchte!« Doch die alten Herren säßen fest im Sattel, die Pfründe seien verteilt. »Das Netzwerk dicht gekloppt«, besäßen sie Verträge bis in die Ewigkeit. Und Programmhefte mit aller Dramaturgiebesserwisserei und »dem absolutem Wissen über Wagner!« Da redet er lieber über seine Eltern.

Täglich telefoniert er mit Zuhause und fürchtet sich vor Mutters Tod und Vaters Tod. Er liebt seine Eltern. Sie ihn. Er liebt sie auch dafür, dass sie ihn tolerieren und seine schlimmen Skandale ertragen und mitgetragen haben. Wiewohl sie bis heute nicht akzeptieren, dass er nicht Apotheker geworden ist wie Daddy: Ehemann, Vater und im Lions-Club. Dass er es doch noch bis hoch nach Bayreuth geschafft hat, ist ihnen ein Trost.

Er redet über Liebe, Schmerz und Tränen. Und über die Angst, sein »Lebenselixier«. Angst seit der Dunkelheit des Kinderzimmers. Nur wenn diese Angst aussetze, werde er mutig: »Im Kern bin ich feige«, gesteht er, nicht laut, aber bestimmt. Und es schmerze, dass die Öffentlichkeit immer nur »die Oberfläche klingen und blitzen sehen will!« Er könnte heulen, »und wie«. Plötzlich lösen sich für Sekunden im Gesicht die Konturen. Er wendet sich ab.

Überhaupt die Medien! Die hat er bespielt wie kein Zweiter. Benutzt bis zum Exzess. Er hat sich bis zum Überdruss in den Vordergrund gespielt. Der Overkill kam dann schließlich als Bumerang voll zurück. So voll zurück, dass er sich plötzlich selbst verloren glaubte »und auf die Bremse stieg!«. Aber das Etikett ist zu seinem Kummerbund geworden: »Unter Provokateur läuft in der Presse gar nix!« Das klebt an ihm wie das Label Enfant terrible am greisen George Tabori, 92. Seine Finger fahren vom Schuh zum Knie, greifen ans Auge, packen die Schulter, zippen den Reißverschluss auf und ab. Mut sei für ihn nicht mehr, den Satz »Tötet Helmut Kohl« zu formulieren: »Mut ist für mich, mich selbst innerlich zu durchkramen. Ins eigene Arschloch zu kriechen, und zwar so lange, bis ich beim Kopf wieder herauskomme!« Er spricht von »Selbstbeschmutzung«, will aber den Begriff »Läuterung« nicht hören.

Zu katholisch? Der Ministrant von einst sieht jetzt aus wie ein Novize. Endlich könne er warten. Endlich habe er aufgehört, sich und seine künstlerische Begabung »zuzuschütten«. Deswegen sei er aus Deutschland nach Afrika geflohen, um in Ruhe zu arbeiten auf der neuen »Teststrecke«, auf der er »ganz langsam unterwegs« sei. Und ohne Aino Laberenz, seine Kostümbildnerin, die Liebe seit zwei Jahren, »läuft sowieso nix!«. Aus mit den Publicity-Zeiten, zu denen »man sich gerne sieht, liest und reden hört!« Kraftvoll die Einsicht: »Ich muss alles neu ertasten wie ein gescheiterter Gott!«

Noch immer hadert er mit dem großen Bruch in seinem Leben, und so frisch, verletzt, erbost, voll kindlichen Entsetzens, dass ihm so viel Übel widerfahren konnte, bricht die Erinnerung heraus, als sei nicht längst ein Vierteljahrhundert mittlerweile darüber vergangen: das Drüsenfieber, der geplatzte Blinddarm, das Abitur vergeigt. Und das alles in einem einzigen Jahr.

Ob man es glauben mag oder nicht – nie habe er provozieren wollen, beteuert er. Provoziert hätten sich bloß immer die anderen gefühlt. Er tue einfach nur das, was er tun müsse. Seiner Logik und seinem ästhetischen Ordnungsprinzip folgend, ein Alchimist seiner selbst und der Dinge um ihn herum. Da ihn »Klarheit und die guten deutschen Lösungen langweilen bis zum Einschlafen«, sieht er sich vom Schicksal »prädestiniert für die Produktion von Missverständnissen«. Denen wird er mit seinem neuesten work in progress wieder reichlich Nahrung geben.

Von Vorder- bis Hinterbühne bildet er im Burgtheater den Inhalt seines Gehirns und den Mäander seiner Sinnesbewegungen ab. Der Zuschauer wird die Visionskammern des zerebralen Guck-Kastls begehen, begreifen, betasten können, an deren unvollendbarer Fertigstellung Christoph Schlingensief bis zur letzten Minute und natürlich darüber hinaus ordentlich chaotisch werkt.

Mit der Ruhe der Souveränität pflügt er durch die Brandung dieser Probenarbeit und hält Kurs. Er erklärt, tackert, dirigiert, telefoniert, da eine Anweisung, dort eine Diskussion, hier eine Handreichung, und voller sozialer Grazie schlingt er die Verbindungen zwischen Gästen, Neugierigen, Journalisten und den Schauspielern, seiner Familie. Da wird eine klitzekleine Leni Riefenstahl ihren großen Massai ablichten, da werden Hitler und Stalin in die Sachertorte masturbieren, da wird ein täuschend echtes Hermann-Nitsch-Double besäuselt über die Bretter schlingern und ein hyperrealistischer Otto Mühl im Rollstuhl über die Leinwand robben. Patti Smith live, Beuys plastifiziert, und es wagnert aus allen Rohren.

Nach dem Gespräch muss Christoph Schlingensief noch schnell die Kleidung wechseln, in seinem bekleckerten Arbeitsgewand könne er nicht auf dem Mitarbeiterfest auftauchen. Der Zeitnot wegen zieht er sich gleich in der Portierloge um und, ungeschützt vor Blicken und der schneidenden Zugluft ausgesetzt, gesteht in seinen rabenschwarzen Boxershorts von Hugo Boss, dass seine Vorbilder nicht eben Schiller und Goethe seien, sondern Beuys und sein Onkel Heinrich und sein Onkel Willy.

Nach drei Vorbereitungsabenden eröffnet Christoph Schlingensief am 20. Jänner seine »Matthäusexpedition« zur »Area 7«, einen Rundgang durch ein Installationslabyrinth, das von mythologischen Versatzstücken bevölkert ist, die der Chaosmacher seit Jahren sammelt. Er nennt es einen »lebenden Organismus, auf dem der Zuschauer herumfährt, lebt und selber zum Bestandteil wird«.

(c) DIE ZEIT 19.01.2006 Nr.4