Großmeister des Haufenbildens (FR)

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Vierte Kreuzwegstation: Christoph Schlingensiefs „Animatograph“ setzt nun auch das Wiener Burgtheater in Bewegung.

VON STEPHAN HILPOLD

Baracken statt der üblichen Bestuhlung, an der Decke flimmern Projektionen, Lautsprecherdurchsagen und Sirenengeheul. Als wäre die Bühne explodiert und der Zuschauerraum gleich mit. Am Wiener Burgtheater, dieser Trutzburg hoher Theaterkunst, ist Christoph Schlingensief zu Gast.

Diesmal trägt er Anzug, neben ihm steht die leibhaftige Rockpoetin Patti Smith, die sich seit dem Bayreuther Parzival zu Schlingensiefs Jüngern gesellt hat. Sie trägt ein Kaffeehäferl in der Hand. Von der Festloge aus, wo normalerweise die in Österreich weltbekannten Honoratioren sitzen, blicken sie runter auf ihr Werk. Im Trippelschritt und Gänsemarsch bahnen sich hier die Zuschauer ihre Wege, blicken in Gucklöcher und Monitore, schmieren ihre Hände mit Margarine ein. Und Schlingensief und Smith dachten, dass es gut sei.

Für jene, die sich das erste Mal in diese Bretterverschläge verirren, in die Buden mit ihren Schleichwegen samt Überraschungspräsenten, ist es dagegen wohl das blanke Chaos. Eine einzige Herausforderung für Stadtindianer.

Zur Orientierungshilfe hatte man noch einen ungefähren Plan in die Hände gedrückt bekommen und Schlingensief und Co. hatten auf der Feststiege auch noch einige Ratschläge parat. Doch wie das bei Orientierungsläufen eben so ist: Seinen Weg muss sich jeder alleine bahnen – durch eine für Schlingensief und seine Mitstreiter eine in der mittlerweile vierten Etappe geordneten Welt.

Animatograph nannten sie ihr Miniuniversum, damals beim Aufbruch in Island vor mittlerweile neun Monaten. Eine Drehbühne inmitten eines Labyrinths war das, die Schlingensief im Keller eines Kulturzentrums zum Drehen gebracht hatte. Ein Rotieren mit Odin und Thor, mit Bambi und Parzival, mit Beuys und Dieter Roth. Eine Untergrundaktion. Ein wildes, ein wüstes Mythensammelsurium im Eis und im Schnee.

Diese sind mittlerweile geschmolzen. Von Island ging es nach Neuhardenberg bei Berlin und dann weiter nach Lüderitz in Namibia. „Area 7“ hieß nun das Projekt, nach einem Wellblech-Township am Rande der Stadt. Schlingensief drehte hier seinen ersten Film seit acht Jahren (The African Twin Towers). Der ursprüngliche Animatograph wurde verkauft (an die Kunstmäzenin Francesca von Habsburg), neue Exemplare des Schlingensiefschen „Seelenschreibers“ kamen hinzu und natürlich noch vieles mehr. Schließlich landete man in der Wiener Burg. Als sei das das Selbstverständlichste der Welt.

Durch die Matthäusexpedition

Vor Wochen war hier bereits Hermann Nitsch zu Gast, der Aktionist, der seine Blut- und Gedärme-Spiele nun endlich im Allerheiligsten seines ungeliebten Vaterlandes abhalten durfte. Und jetzt Schlingensief. Nach Weihrauch riecht es auch bei ihm – wie könnte es bei einem Abend, der sich im Untertitel „Matthäusexpedition“ nennt, auch anders sein.

Die Passion Christi wird zur Obsession des Schamanen aus Oberhausen. Der Leidensweg zum Jubelfest. Die Erlösungsrufe aber bleiben. Ungewöhnlich andächtig geht es auf dem Schlingensiefschen Kreuzweg diesmal zu, „einen weichen Abend“ hatte er bereits zu Anfang verkündet, „keinen Abend der Aggression“. Patti Smith sprach von Harmonie und sang dann ihre berückenden Lieder. Sind es die heiligen Hallen, die aus dem Ganzen ein Weihespiel machen? Oder nähert sich Schlingensief immer weiter dem Kern seines Unternehmens?

Ausgezogen war der Gralsritter Schlingensief um seine „aktionistische Fotoplatte“, wie er den Animatographen damals nannte, zu belichten: mit seinen eigenen Erfahrungen, mit jenen seiner Besucher, mit den Eindrücken von den Orten, an denen man Station macht. In Island waren denn noch die Bilder des Bayreuther Parzival zentral und des Jelinekschen Bambiland, jetzt nähert er sich immer weiter seinen eigenen Göttern: Die neben dem Animatographen (im Zuschauerraum) zweite Drehbühne in der Burg, jener auf der Bühne selbst, wird von einem Schiff überthront. Die Segel des fliegenden Holländers, darum überbordende Rothsche Zimmer, heilige Beuyssche Stationen, Brussche Kammern, Jelineksche Vorlesungen und Schlingensiefsche Lebensstationen. Der Filz und das Fett, die Eichen und die Hasen. Der Mutterleib und das Vateruniversum, die Aktionsfilme und der Wagnersohn.

Ausscheidungen und Spurensuche

„Schlingensief ist ein Großmeister des Scheißens“, sagt irgendwann während der langen aktionistischen Installation, die schon am späten Nachmittag eröffnet wird und erst kurz vor Mitternacht zu Ende geht (sie ist der vierte der Reihe) der Kulturtheoretiker Bazon Brok in seinem Vortrag mitten in der Barackenstadt, „ein Großmeister in der Kunst des Haufenbildens.“ Ein großartiger Verdauungskünstler, dessen Ausscheidungen die beredsten Spuren sind: Fährtenleser haben es trotzdem schwer. Und gehen dem Künstler auch auf den Leim.

Denn genauso wenig wie man in Schlingensief einen Allesverwerter sehen darf, lassen sich seine Paralleluniversen bis in ihre Details entziffern. Der Gralssucher ist immer auch der kleine Junge, der anderen eine lange Nase dreht, ein heiterer Aktionist, der Konsorten wie Nitsch oder Brus schon allein mit seiner Selbstdistanzierungsfähigkeit aussticht. Und immer auch zu einem Spaß aufgelegt ist: Da tritt Michael Jackson auf und wagt einen Mondtanz, da werden die vergangenen zwanzig Jahre der Schauspielikone und Schlingensief-Mitstreiterin Irm Hermann analysiert, Robert Stadlober erklärt die Worte seiner chinesischen Schauspielkollegin, die die Besucher durch die Hinterbühne führt.

Doch über allem thront der Zeremonienmeister, am Ende eines ungemein dichten Abends gibt er das Zeichen zur Matthäuspassion, das Segel des Fliegenden Holländers wird eingezogen, die Fahrt ist vorerst vorbei. Demnächst aber geht sie weiter: nach Nepal und nach Brasilien.

Wien, Burgtheater: „Area 7. Matthäusexpedition von Christoph Schlingensief“: Nächste Installationen im März im Wiener Burgtheater. www.burgtheater.at