Auf der rotierenden Mythenmüllhalde (Die Welt)

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Witz und Wahn sind eins: Christoph Schlingensief setzt im Wiener Burgtheater „Area 7 – Matthäusexpedition“ in Szene

Von Ulrich Weinzierl

Er ist eine Mischung aus Proteus und Peter Pan: stets im Wandel und dennoch der unverwüstliche deutsche Junge. Christoph Schlingensief, mittlerweile auch schon 45, ist seit kurzem bei moderner Kunst angelangt, wo sich das Beiwort „chaotisch“ oft zu erübrigen scheint. Und seit Bayreuth ist sein rasanter Aufstieg zum Parnaß überhaupt nicht mehr zu bremsen. Alle lieben den Liebenswerten. Der Kunstbetrieb, nicht zuletzt Francesca Habsburg-Thyssen-Bornemisza und ihre Stiftung, drückt ihn fest an seinen/ihren Busen – bald dürften die Marktpreise explodieren. Auch Klaus Bachlers Wiener Burgtheater glaubt längst, auf den Spektakelartisten nicht verzichten zu können – immerhin übermalte er in diesen heiligen Hallen Jelineks „Bambiland“, was ihm die Autorin aber keineswegs übelgenommen hat.

Trotzdem handelt es sich um ein grundsätzliches Mißverständnis. Schlingensiefs jüngstes Mammut-Projekt, „Area 7 – Matthäusexpedition“, hat mit Theater etwa so viel zu tun wie Hermann Nitsch mit Tschechows psychologischen Konversationskammerspielen. Aber Meister Nitsch war ja auch bereits Hausgast, um dort seine siebenstündigen Bluterlösungsmysterien zu zelebrieren.

Damit kein Mißverständnis entsteht: Christoph Schlingensief ist als Gesamtkunstwerker erheblich intelligenter und origineller als Nitsch, der bei ihm in der kugelrunden, rauschebärtigen Gestalt des Burgschauspielers Hermann Scheidleder auftreten darf, und – dies vor allem -: Er hat unverschämten, abgründigen Humor. Keine größere Freude für ihn, als das Publikum listig an der Nase herumzuführen; ob als Partei- oder als Religionsgründer mit den zwei Geboten: Bekenne dich zu deiner Angst und nütze die Chance, die du nicht hast. Heute macht er avantgardistische Kunst von gestern und sich zugleich darüber lustig.

Im Grunde ist „Area 7“ eine gigantische Installation. Parkett und Parterre wurden von der Bestuhlung befreit, dafür herrscht das Prinzip der entfesselten Drehbühne. Alles rotiert, von der Brandmauer bis zur Festloge: ein Schrottmuseum von Hangar-Format. Schlingensiefs aktuellste Lieblingserfindung ist der sogenannte „Animatograph“, eine modifizierte Leihgabe aus dem 19. Jahrhundert. Dieses Ramsch-Karussell, auf das Filme projiziert werden, dient als buchstäbliche Bilderzentrifuge.

Naturgemäß ist das Ganze über und über mit Bedeutung befrachtet – sprich: mit Anspielungen, Zitaten und nachvollziehbarer bis hermetischer Privatmythologie. Der Hauptteil der Installation besteht indes aus einem gewaltigen Labyrinth, durch das die Besucher in Kleingruppen von akustisch kaum verständlichen Führern geschleust werden. Der Kunstfreund Adolf Hitler und Joseph Beuys sind hier ebenso vertreten wie Elfriede Jelinek, die auf Videomonitoren Auszüge aus ihrem eigens für Schlingensief verfaßten „Parsifal“-Text liest.

Sperrholz, Fetzen, Plastikplanen, Dreck und Kitsch, ausrangierte Garderobeschränke und Wagner-Klänge, die den ursprünglich angekündigten Johann Sebastian Bach fast völlig verdrängt haben, ergeben eine wundersam arrangierte Mythenmüllhalde, der Saal wird zum Container. Im Hintergrund ragen Schlingensiefs „African Twin Towers“ aus tibetanischen Gebetsfahnen empor und als Höhepunkt: ein Holzschiff, das Kapitän Schlingensief wie Fitzcarraldo über Berge und Kontinente schleppen läßt und flugs zum „Fliegenden Holländer“ ernennt.

Manches wirkt in der Tat sehr witzig, etwa das Kriegerdenkmal für Beuys: Im Rachen von dessen vermeintlicher überdimensionalen Totenmaske verwest ein Video-Hase, mit solch symbolträchtigem Tier – an anderer Stelle unterstützt von toten Fischen – parodiert Schlingensief christliche Ikonographie und beutet sie aus. Er ist eben ein genialer Plünderer, unter dessen räuberischen Händen sich Edles und Erhabenes garantiert in Plunder verwandelt, freilich in einen mit noblem Anspruch.

Wie nicht anders zu erwarten, denkt und agiert die Firma Schlingensief & Co. global. Die erste Station war im vergangenen Mai das „Reykjavik Art Festival“, es folgten der weiland DDR-Militärflughafen Neuhardenberg bei Berlin, im Herbst Filmdreharbeiten in Namibia, genauer: in Lüderitz, dessen Slumviertel „Area 7“ dem Unternehmen den jetzigen Namen gab. Überall wurden und werden lokale Anregungen wie mit einem Staubsauger inhaliert und dann am nächsten Produktionsort wieder ausgespieen: die ewige Wiederkehr des Gleichen als wucherndes „work in progress“. Auf solche Weise haben die Wiener den Fliegenden Holländer in der Wüste von ehemals Deutsch-Südwest bekommen und statt des Grals einen Kral. Das Burgtheater wird auch diesen tapferen Versuch der Selbstabschaffung überleben.