„Deutschland ist das Land der trockenen Kekse“ (Der Tagesspiegel)

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Lesen Sie hier die wirkliche, weil ungekürzte (!) Version des Tagesspiegel-Gesprächs mit Christoph Schlingensief

Herr Schlingensief, Sie sind katholisch erzogen worden und sind dem Pfarrer als Meßdiener zur Hand gegangen. Sie haben in der Kirche beichten gelernt. Bekommen Sie die sieben Todsünden noch zusammen?

Schlingensief: Nein, beim besten Willen nicht. Da bin ich ganz ehrlich. Muß man die unter Ratzinger wieder wissen?

Du sollst nicht lügen ist eines der zehn Gebote.

Schlingensief: Auch die zehn Gebote könnte ich nicht mehr alle aufzählen. Dabei hatte ich in Religion mal eine Eins, habe mich aber langsam vom Kirchenapparat abgenabelt. Ich glaube nicht an den einen Gott, der ist wie seine Artgenossen auch von Menschen gemacht. Die Götter der griechischen Mythologie sind aus dem Chaos entstanden, die Götter der nordischen Sagenwelt, mit denen ich in meinem Projekt „Der Animatograph“ kooperiere, kommen aus dem Nichts. Ich fahre in meiner Nußschale herum, lande hier mal im Wüstensand und kollidiere da mal mit einem Eisberg, aber ich fahre nicht automatisch ins Land wo Milch und Honig fließen. Im Schlaraffenland ist die Motivation, etwas zu verändern, ziemlich gering, im ewigen Eis entsteht vielleicht was Neues, etwas…

Herr Schlingensief!

Schlingensief: Im wirklich großartigen Museum für bildende Künste in Leipzig habe ich neulich ein Bild von Max Klinger gesehen, auf dem Jesus und Zeus aufeinander treffen – ein tête à tête der Götter. Hochinteressant! Auch wenn man sich in der katholischen Kirche damit keine Freunde macht – auch nicht bei meinen Eltern.

Die sieben Todsünden sind, als kleine Hilfe für Sie: Habgier, Wollust, Wut, Neid, Trägheit, Völlerei, Stolz. Die sind Ihnen alle fremd?

Schlingensief: Überhaupt nicht. Wut kenne ich, Stolz und Neid auch. Habgier ist mir sehr fremd. Träge bin ich nicht. Trägheit selbst wiederum macht mich wütend, wenn Herrschaften, die jahrelang bequem in ihren Sesseln hocken, Leuten wie mir vorhalten, sie würden stören.

Was neiden Sie anderen?

Schlingensief: Keine materiellen Werte, dafür ist mir die Zeit zu schade. Zeit ist ein wertvoller Besitz. Neid ist das falsche Wort. Wut! Wütend machen mich die Leute, die Millionen an Opern oder in Sendeanstalten verplempern. Gelder, die man lieber in kulturelle Filmbüros stecken sollte.

Und worauf sind Sie stolz?

Schlingensief: Ich bin stolz, nicht aufgegeben zu haben. Am Anfang, da ist es knochenhart. Man wird gelobt, will den Erfolg wiederholen, verbiegt sich und stürzt in die Schlucht. Ich habe kiloweise Artikel gelesen, in denen meine Arbeiten fertig gemacht wurden, aber eigentlich haben sie mir nur geholfen. Im Nachhinein betrachtet hatte ich das große Glück, immer wieder an einen Punkt zu kommen, an dem es scheinbar nicht mehr weiterging, an dem ich kämpfen mußte. Ich habe bestimmt die eine oder andere Macke dabei abbekommen, aber es erdet auch ungemein. Pfeiffersches Drüsenfieber, ein geplatzter Blinddarm, Darmverschluß, sechs Wochen Intensivstation – mit 18, 19 Jahren schon. Es ging und ging nicht aufwärts, ein Schlauch hier und ein Schlauch da, Abpumpen usw. Neben mir starben die Leute. Da habe ich mich zum ersten Mal entschlossen, die Dinge im Fluß zu sehen. Wer mir meine Grenzen zeigen will, der darf es gerne versuchen. Ich bin stolz, schwach sein zu können.

Sie dachten nie: Das war’s dann.

Schlingensief: Im Krankenhaus nicht, nein. Als mich wenig später meine Freundin verlassen hat, habe ich einen Selbstmordversuch unternommen, ziemlich schlampig und sehr erfolglos. Als man mich fand und ich wieder aufwachte, hatte ich das Zeitgefühl verloren: Ich dachte es sei Mittwoch, und wenn es mit dem Jenseits schon nicht klappte, dann wollte ich wenigstens die Apotheke meines Vaters überfallen, um mit dem Geld abzuhauen. Es war aber Samstag, und er hatte schon geschlossen.

Der Stolz ist als Todsünde nahe bei der Eitelkeit. Der Bayreuth-Sänger Endrik Wottrich sagt über Sie: „Ich wundere mich, weshalb er solch ein ungeheures Bedürfnis hat, in die Kamera zu gucken.“

Schlingensief: Langweilig. Mir ist zu früheren Zeiten auch schon aufgefallen, worüber sich der weltengrößte Wagnerexperte so alles wundert. Nicht mal ignorieren, sagt Valentin. Ich streite aber gar nicht ab, daß ich mich darum schere, wie ich wirke. Wenn ich zum Abendessen eingeladen werde, wähle ich zwischen zwei Hosen und 4 Paar Socken. Der Rest ist beim afrikanischen Zoll hängen geblieben. Aber wieso fallen Stolz und Eitelkeit überhaupt in eine Kategorie? Stolz im Sinne von Würde ist doch absolut ehrenhaft. Ein HartzIV-Empfänger, der sich nicht abstempeln läßt, hat allen Grund, stolz zu sein. Er hat um ein Vielfaches mehr Grund, stolz zu sein, als Herr HartzIV, der trotz Millionengehalts noch auf Firmenkosten über die Prostituierten rutscht. So hat jeder seinen Stolz, nichts dagegen.

Wie halten Sie´s mit den anderen Todsünden?

Schlingensief: Du liebe Güte sind Sie depressiv unterwegs! Ist es inzwischen so schlimm in Berlin? Ich war ja schon länger nicht mehr da. Völlerei und Maßlosigkeit sind nicht mein Problem. Ich mache Trennkost.

Bitte? Sie sind bekannt als Moralapostel, nicht als Gesundheitsapostel.

Schlingensief: Jetzt verwechseln Sie mich aber mit dem letzten Bundestagspräsidenten. Wie hieß der noch…? Wie schnell man die Namen vergißt… Der mit dem Bart, der die Steine vor den Reichstag gestellt hat, damit er drinnen die DDR besser vertreten konnte. Auch egal… Der Gesundheitsapostel weiß wovon er spricht, der Moralapostel nicht. Also alles im Gleichgewicht. Mir schmeckt die österreichische Küche genauso gut wie das Essen in Afrika, auf beides stürze ich mich in Maßen. Von Wollust kann hier keine Rede sein. Bedeutet Wollust eigentlich sexueller Überdrang?

Nur wenn er, so ist es religiös definiert, andere erniedrigt oder Beziehungen zerstört.

Schlingensief: Dann bin ich nicht wollüstig. Ich bin sexuell eher normal und habe zum Glück eine Freundin, die Spaß daran hat.

Welche Todsünde können Sie anderen leicht verzeihen?

Schlingensief: Bei Wut und Neid bin ich gnädig. Habgier und Trägheit werden nicht verziehen, da kann ich keine Absolution erteilen. Darüber hinaus arbeitet die Zeit für uns. Also ich lasse mir Zeit, auch für Ihre Todsünden. Wenn ich das mal schnell als Weihnachtsbotschaft ans Volk loswerden darf: Wir haben Zeit! Laßt Euch nicht pausenlos unter Druck setzen! Du bist vielleicht nicht Deutschland, auch wenn diese völlig abstruse Kampagne das behauptet, aber Du bist ganz bestimmt Deine eigene Zeiteinheit! Ich merke, daß es Kräfte und Kraftfelder gibt, die ich aufspüre und die mich optimistisch stimmen; Schauspieler etwa, mit denen ich nach Jahren wieder zusammenkomme, oder meine Arbeit in Island, Frankreich oder Namibia. Dabei entsteht Kraft, auch aus dem Bewußtsein heraus, daß ich hier und jetzt nur einmal da bin, um vom nächsten Endpunkt aus neu zu starten.

Ach ja…?

Schlingensief: Ach ja! Da sind Sie baff? Ich dachte, der Tagesspiegel besäße einen Reise- und Glaubensteil! …Keine Angst, ich bin kein Esoteriker. Ich pendele nicht und zünde keine Räucherstäbchen an. Aber es gibt einen metaphysischen Kontext, in dem ich mich bewege, Kräfte, die mich öffnen und beschleunigen. Darauf bin ich stolz, auch wenn es eine Todsünde wäre.

Sie haben mal gesagt, „Ich bin ein Soldat Gottes“ und…

Schlingensief: Wirklich, „Soldat Gottes“? Verwechseln Sie mich da nicht mit George Bush? Deshalb reden Sie auch die ganze Zeit über Todsünden. Jetzt verstehe ich: Sie wollten gar kein Interview mit mir! Und ich hab mich schon gewundert…

Das waren Ihre Worte. Wenn Sie sich als solcher das Jahr 2005 anschauen, wer hätte denn Belohnung oder eine gerechte Strafe verdient?

Schlingensief: Das ist eine heikle Frage. Es gibt Leute die meinen, ich hätte einmal Jürgen Möllemann verhext…

…indem Sie dem FDP-Politiker zuriefen: „Möllemann, ich verfluche dich!“

Schlingensief: Ich stand ihm dabei nicht gegenüber, sondern im Eingang seiner dubiosen Firma in Düsseldorf. Trotzdem war er kurz darauf tot. Wir waren mit der „Church of Fear“ auf der Biennale in Venedig. Meine Mutter rief mich an und sagte ängstlich: „Christoph, der Möllemann ist eben vom Himmel gefallen. Sag´ nichts, wenn die Polizei dich danach fragt!“ Sie hatte kurzfristig tatsächlich die Angst, ich könnte das bewirkt haben. Die Wahrheit war natürlich viel banaler, wie bei Möllemann oder der FDP nicht anders zu erwarten. Aber Voodoo ist schon eine interessante und manchmal vielleicht ideale Religion. Ich habe zu Hause auch so eine Puppe.

Zumindest in einem ist dieses Jahr gut für Sie verlaufen. Im Sommer sagten Sie über Angela Merkel, sie sei „supersüß“ – und prompt ist sie Kanzlerin geworden.

Schlingensief: Merkel ist wirklich supersüß. Sie hat mir in Bayreuth mal zugelächelt, mit kecker Schnute und Augenblinzeln. Ich bin sicher, sie wird ihren Weg gehen und die Chancen stehen vielleicht gar nicht so schlecht, daß sie uns ein Stück mitnimmt. Ihr großer Vorteil ist, daß jeder glaubt, er könne sie packen und in die eigene Westentasche stecken – die Parteisoldaten grabschen nach ihr, die Lobbyisten fingern an ihr rum, Christiansen und Kerner pinschern sie an… Aber sie greifen ins Leere, Merkel ist schon wieder ein Stück weitergegangen. Das ist Quantentheorie. Sie hat neulich einmal gesagt, sie lasse bei sich zu Hause die Radieschen nicht fotografieren, die seien zu mager. Sie sagt damit, beurteilt mich nach meiner Arbeit, aber laßt mir mein Privatleben. Ich schließe aus den Radieschen, daß sie ein mageres Privatleben hat. Das macht sie mir sympathisch. Sie vermarktet Ihre Privatsphäre noch (!) nicht, so wie Schröder das getan hat, inklusive Hundesalon und Kinderadoption.

Da spricht ein Fan. Merkel ist Pfarrerstochter und Protestantin, welche Todsünde würden Sie Ihr zutrauen?

Schlingensief: Ich glaube, eine Protestantin kann mit diesem Konzept von Sünde, Beichte und Buße nicht viel anfangen. Ich würde mir wünschen, daß sie gerade in ihrer Rolle als Kanzlerin Todsünden einfach mal außen vor läßt, auf dem Gebiet waren ihre Vorgänger schon aktiv genug. Kohl stand für Maßlosigkeit und falschen Stolz, Schröder für Eitelkeit und Gier, sein Vize-Kanzler für Völlerei. Was bliebe da noch für Merkel? Wollust? Nein. Wütend darf sie sein, auf diejenigen, die weiter nur Lobbypolitik für die Fernsehkameras betreiben. Aber eine Todsünde kann ich ihr nicht zuordnen. Bei Frau Merkel fällt mir der Begriff Gewieftheit ein, darüber hinaus aber kann ich nicht einmal erklären, was diese Frau antreibt. Für ihre Gegner ist das sicher ein Problem. Wie kriegt man diese Frau rum? Sicher nicht mit Champagner oder tollem Sex? Vielleicht mit einer Packung trockener Kekse, irgend etwas Handfestem. Deutschland hatte immer die Kanzler, die in die Zeit paßten: Schmidt war der Staat als Großkotz, Willy Brandt der Seelenklempner – Kniefall in Warschau, Sex im Zug, Schweiß und Tränen. So gesehen brechen jetzt magere Jahre an. Große Emotionen sind von Merkel nicht zu erwarten, vielleicht ist das aber auch gut so. Sie regiert das Deutschland der trockenen Kekse.

Gerhard Schröder hat den Weg frei gemacht für Neuwahlen, damit ein Ruck durch Deutschland gehen kann. Das sollte sogar Ihnen ein Lob wert sein.

Schlingensief: Sie glauben doch nicht allen Ernstes, daß es Schröder bei seiner Neuwahlposse um Deutschland gegangen ist! Das war kein Akt der Demut, sondern in erster Linie ein Ausdruck von Vermessenheit und Machtgier, wie er sie den Deutschen in der Elefantenrunde am Wahlabend dann vollends vor die Füße gekotzt hat. Dann das wochenlange Hickhack um seinen Abtritt, auch die Arroganz, mit der der weise Herr Fischer seinen Rückzug proklamiert hat; das hat doch deutlich gemacht, in welchem Verhältnis zu Deutschland sich diese Pfauen sehen. Auch das Geschwätz vom Friedenskanzler, einfach unerträglich. Da beginnt um fünf nach Zwölf schon wieder die Geschichtsverbiegung. Ich sage Ihnen jetzt mal die einzige historische Wahrheit über den Kanzler: Ja, Gerhard Schröder hat sich die Haare repigmentieren lassen! Egal wie, er hat es getan.

Das Jahr hatte auch ein wollüstiges Thema: Manager und Betriebsratsbosse mit üppigen Spesenkonten und Mätressen in aller Welt.

Schlingensief: Ja, ein wirklich schöner Skandal, von den Boulevardmedien aber viel zu mies ausgeschlachtet. Da wurde wieder in die Guten und in die Bösen unterteilt, anstatt einfach mal zu sagen, daß wir alle unsere Leichen im Keller haben. Diese Wollustaffäre hat die deutsche Urseele zwar geweckt, das populistische Gutmenschentum der Berichterstatter hat sie dann aber auch wieder eingeschläfert. Am Ende ist dann alles nur noch lustig. Herr HartzIV mit seinen tschechischen Nutten und geilen Brasilianerinnen, davon kann Harald Schmidt Wochen leben. So wie wir solche Schweinerein angehen, bringt das nichts. Was wir brauchen ist Transparenz, die Offenlegung von Gehältern und Abfindungen, die offene Aussprache über den deutlichen Zusammenhang von Puff und Profit. P&P!

Sie haben vor zwei Jahren das „Recht auf Terror“ (ACHTUNG: „Recht auf persönlichen Terror“!!! habe ich gesagt!!! Also kein Staatsterror oder Glaubensterror!!! – Bitte das unbedingt richtig!!! zitieren: „Recht auf persönlichen Terror“!!!) verkündet. Als in den Pariser Vorstädten Hunderte Autos brannten, was haben Sie da gedacht?

Schlingensief: Wir haben das Recht auf „persönlichen Terror“ gegen das Monopol der Staats- und Glaubensterroristen gesetzt. Beides muß man unbedingt unterscheiden! Die Pariser Unruhen waren ja auch alles andere als ein organisiertes Verbrechen, wie es die Medien gerne darstellen, sondern eine ganz natürlich gewachsene Antwort auf perverse Zustände, zumal wenn ein französischer Innenminister seinerseits durch die Straßen marodiert und von 200 Leibwächtern umzingelt diese Menschen als Abschaum bezeichnet. Da zeigt sich, von welch dekadentem Standpunkt aus diese Probleme betrachtet werden. Die brennenden Autos wirkten deshalb wie ein Lebenszeichen: Wir sind noch da! Natürlich erschrecken einen solche Bilder, aber ich fand sie auch beeindruckend. In Deutschland heißt demonstrieren: Demo anmelden, in einen Bus setzen, Gewerkschaftsfähnchen schwingen, warmer Tee aus Thermoskannen und abends hoffen, daß man im „heute journal“ mal durchs Bild läuft.

Früher haben Sie die Partei „Chance 2000“ gegründet und den Aufruf „Tötet Helmut Kohl“ gestartet. Sie wollten vom Dach des Reichstags 100.000 Mark in Banknoten regnen lassen, Sie haben Asylbewerber in Container gesteckt und fünf Millionen Arbeitslose aufgerufen, in den Wolfgangsee zu hüpfen, damit er überläuft. Seit einer Weile verkrümeln Sie sich nach Afrika und Tibet, reden von Kraftfeldern und Buddhismus.

Schlingensief: Auch so ein kurioser Medienreflex: Solange man mit Arbeitslosen am Wolfgangsee oder mit Asylbewerbern in der Wiener Innenstadt steht, ist man der Provokateur, der Skandalregisseur; sobald man andere Kraftfelder bewirtschaft, die eher nach innen gehen, gilt man als fahnenflüchtig oder altersmüde. In meiner Chronologie führen „Chance 2000“, die Wien-Container oder die „Church of Fear“ nach Bayreuth und zum Animatographen; nicht immer auf dem direkten Weg, aber die Zusammenhänge sind ganz klar. Kein aktuelles Projekt könnte ohne den Input vorangegangener Projekte existieren, Alles hängt mit Allem zusammen. Das ist grundsätzlich schon voodooistisch. Was die Straßenkämpfe in Paris angeht, funktioniert der Medienmechanismus ähnlich: Für die ersten brennenden Autos wird noch das Hauptprogramm unterbrochen, dann wird langsam runtergezählt; am zweiten Tag noch 400 Autos, am dritten nur noch 150… In der Laufleiste am unteren Bildschirm laufen zeitgleich die Börsendaten. Alles versendet sich, auch der Notstand. Als deutsches Gewohnheitstier wartet man ab, bis sich der Medienhype nach ein, zwei Wochen gelegt hat. Wir sind durchimmunisiert, und ich bin es auch.

Das klingt fatalistisch.

Schlingensief: Na, Sie reden doch die ganze Zeit von Todsünden. Sie mögen das fatalistisch, buddhistisch, voodooistisch oder Politikflucht nennen, ich nenne es Notwehr. Ich gehe an Orte, in Nepal oder Namibia, die mich noch überfordern können, die mir zeigen, was für ein zentralistisches Weltbild wir hier pflegen. Für mich ist das der Wiedereinstieg in das Unternehmen „Leben“, ein anderer, menschlicher Begriff von Politik. Oder sind wir davon inzwischen schon komplett ausgeschlossen und Politik ist nur noch, wenn sonntags bei Christiansen eingeübter Nonsens gefaselt wird? Da bewegt sich nichts, keine neue Idee, kein neues Bewußtsein, nicht einmal die gestrafften Gesichtszüge von Frau Christiansen – alles tot, totgeredet, totgesendet. Wie soll aus solchen Fernsehgruften noch Aktionspotential nach draußen dringen? Wenn Christiansen das Wachstum ihrer Fußnägel in Echtzeit filmen würde, es steckte mehr Bewegung drin.

Sie selbst haben…

Schlingensief: Moment! Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, die Zahl der Todsünden auf sieben zu beschränken? Ich möchte noch Dummheit und Ignoranz hinzufügen. Politisch gesehen sind diese beiden schlimmer als Wollust und Völlerei.

Für eine Wochenzeitung sind Sie der „Provokationsprofi“, ein Kritiker schrieb: „Wo er auftaucht, ist permanent Hysterie.“ Und der „Spiegel“ nennt Sie „ein Genie des Grauens“. Da muß Ihnen wenigstens die Rückkehr von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine auf die politische Bühne sympathisch sein.

Schlingensief: Gregor Gysi habe ich als politischen Rechtsanwalt sehr gemocht. Sein Wiedereintritt in die Stratosphäre der Politik ist mir aber aus freundschaftlichen Gründen gesundheitlich unverantwortbar! Ich möchte ihn als Teilnehmer jeder politischen Diskussion sehen und hören, aber nicht mehr unter dem Deckmantel der politischen Initiation. Er und Lafontaine haben es zumindest geschafft, daß wir eine wie auch immer ernst zu nehmende Kraft neben den Grünen haben. Lafontaine weiß wovon er spricht. Ich genieße es sehr, wenn er seinen Kollegen von der SPFDP gegenübersitzt und alle wissen, daß er jederzeit auspacken könnte. Er hat sicher auch bei „Chance 2000“ gelernt. Sein Potential besteht darin, viele Sauereien der anderen zu kennen, die ihm vor Jahren noch als Sozi von internationalem Format gehuldigt haben. Da werden die Herrschaften ganz unruhig. Er hat zumindest eine Idee im Kopf, die er hartnäckig vertritt. Wie es mit der Idee aussähe, müßte er sie umsetzen, ist eine andere Frage. Neben Merkel und Koch ist er eigentlich der Einzige, der mich noch interessieren könnte. Der Rest kommt mir vor wie ein müder Furz. Es muß schon stinken, nach Verwesung oder nach Plätzchen…

63 Prozent aller Westdeutschen, 72 Prozent aller Ostdeutschen sehnen sich, einer neuen Umfrage zufolge, nach einer „geistig-moralischen Wende“. Was hat das zu bedeuten?

Schlingensief: Das kann man doch nicht ernst nehmen! Wer gibt denn solche Umfragen in Auftrag? Wahrscheinlich hat das parteinahe Forschungsinstitut die Fragen so geschlossenen formuliert, daß man sich nur zwischen „Ja“, „Nein“ und „Weiß ich nicht“ entscheiden konnte. Immer mehr private Haushalte sind verschuldet, mittelständische Unternehmen gehen hopps und gleichzeitig laufen die Klums und Beckenbauers über die Mattscheibe, als Inbegriff des erfolgreichen und engagierten Deutschen. Was heißt denn da neue Werte? Geordnete Verhältnisse sind ja immer schön, aber man muß den Menschen auch die Möglichkeit zur eigenen Ordnung geben. Vielleicht sind die neuen Werte ja auch Börsenkurse und die Legalisierung von Steuerbetrug, Bankraub, Mord und Vergewaltigung die Wachstumsmodelle der Zukunft. Und selbst dann noch ist die geistig-moralische Wende Schnee von gestern.

In diese Richtung zielten die Fragen mit Sicherheit nicht. Es scheint eine neue Sehnsucht nach alten Werten und Tugenden zu geben. Auch die Benimmkurse haben großen Zulauf.

Schlingensief: Das hat nichts mit Sehnsucht nach alten Werten zu tun, sondern mit der Sehnsucht nach einer Ordnung, die uns Neue Märkte und alte Politik genommen haben. Politiker brauchen Benimmkurse, nicht die Leute, die an lächerlichen Umfragen teilnehmen. Irgendwann laufen wir alle wieder in Schlips und Karottenjeans durch die Gegend und gehen abends in die Tanzschule; zehn Jahre später kommen die Langhaarigen zurück und sagen „Ey Leute, macht euch mal locker“ und diskutieren über Schlafen für den Weltfrieden. Der Rhythmus ist nicht neu.

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat soeben den Aufschrei „Wir sind Papst“ auf den zweiten Platz zum Wort des Jahres 2005 gewählte. Papst Benedikt, ein deutscher Papst, verschafft Ihnen das als Katholik große Gefühle?

Schlingensief: Meine Mutter war nicht sein größter Fan, als er noch Kardinal Ratzinger hieß. Als er dann Papst wurde, fand sie es dann ganz gut so. Eventuell hat sie am Lebensabend das Gefühl, daß man es sich mit dieser Instanz besser nicht verscherzen sollte. Mir ist der Papst egal, das meine ich ganz unfatalistisch. Ich habe mich von diesen Kircheninszenierungen entfernt, so wie ich mich vom Gebet entfernt habe. Es läßt mich kalt. Ich glaube an die Quantentheorie. Ein Afrikaner als Papst, das hätte mir gefallen. Es gibt zwei Eingänge, das Reiche und das Arme, und genau da teilt sich das Universum. Merkwürdig, wo wir gerade davon sprechen, irritiert es mich, daß mich ein deutscher Papst nicht erregt.

Sind Sie noch Mitglied der Kirche?

Schlingensief: Ich zahle Kirchensteuer und möchte auch für meine Eltern mal eine Freuden-Trauer-Messe und einen Beerdigungszug. Der Pfarrer soll etwas sagen, ich kriege da sicher nichts aus mir heraus.

Vogelgrippe, Feinstaub, Gammelfleisch – hat Sie das besorgt gemacht? Sie sind Gründer der „Kirche der Angst“ und fordern: „Fürchtet Euch!“

Schlingensief: Nein, das waren doch Inszenierungen. Aber ich habe schon eine stark hypochondrische Veranlagung, auch Platzangst, wenigstens Fliegen kann ich inzwischen. Hier, schauen Sie mal auf meine Zunge, das habe ich aus Afrika mitgebracht.

Die Zunge ist kalkweiß.

Schlingensief: Als Hypochonder war meine erste Diagnose natürlich Zungenkrebs. Es ist aber nur ein Pilz mit Fisteln.

Herr Schlingensief, Sie sind Gastprofessor für szenisches Gestalten und darstellendes Spiel. Weihnachten ist die ideale Gelegenheit, sich auszutoben.

Schlingensief: Das würden Sie sich wünschen, daß ich nach der Bescherung mit dem brennenden Weihnachtsbaum über den Altmarkt in Oberhausen renne. Das machen jetzt andere. Meine Eltern und ich schaffen Weihnachten seit Jahren peu à peu ab. Wir feiern ohne Baum, es gibt nicht einmal mehr Geschenke, keine Plätzchenteller, keine Krippe mit Ochs und Esel. Das Essen kommt aus der Dose.

Das machen die Eltern mit?

Schlingensief: Mein Vater ist blind und sieht nicht einmal die Kerzen, meine Mutter kann nach einem Sturz keinen Baum mehr dekorieren. Auch die schwere Bibel kann sie nicht mehr halten. Wir sitzen gemütlich zusammen, von Jahr zu Jahr mehr in dem Bewußtsein, daß es das letzte gemeinsame Weihnachten sein könnte. Die beiden Händchen haltend in ihren Rollstühlen sitzen zu sehen, ist das größte Geschenk für mich.

Es spricht der erste Vorsitzende der Bewegung „Nie wieder Lametta“. Wenn Sie Kinder hätten…

Schlingensief: …dann wäre ich der Erste, der den ganzen Zirkus wieder mitmachen würde. Wenn mein Kind bei seinen Freunden sieht, wie die halbe Bude brennt, kann ich zu Hause nicht die Rolläden runterlassen und Ravioli kochen.