„Ich habe keine frohe Botschaft“ (Die Welt)

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Christoph Schlingensief über Religion, Mitleid, Zwänge und die Frage, wie er seit 45 Jahren mit seinen Eltern Weihnachten feiert

VON KAI LÜHRS-KAISER

Die Welt: Christoph Schlingensief, daß Ihnen Glauben viel bedeutet, kann man sich nicht unbedingt vorstellen.

Christoph Schlingensief: Sie täuschen sich, Religion ist ein großes Thema für mich.

Die Welt: Was bedeutet Religion?

Schlingensief: Sie hat mit der Suche nach verlorenen Bildern zu tun. Ohne vergessene, verschüttete Bilder, die in uns weiterwirken, gibt es keinen Glauben. Die „Church of Fear“, die ich mitgegründet habe, ist der Versuch, unsere verdrängte Angst als Kraft neu zu entdecken. Die Religion ist eine Tür, in der sich Obsessionen und verschüttete Ängste abbilden. Ich könnte mir vorstellen, daß wir wieder Unpriester brauchen, die uns die Zeit neu beibringen. Die uns verlorene Bilder noch einmal zeigen.

Die Welt: Sehen Sie sich selber als einen solchen Un-Priester?

Schlingensief: Nein, ich eigne mich nicht zum Priester, ich habe weder eine Frohe noch eine schlechte Botschaft. Für mich persönlich habe ich aber eine große Hoffnung, weil ich an Kreisläufe glaube, es gibt keinen Anfang und eben auch kein Ende. Meine Botschaft lautet einfach: Es gibt das Untermenschliche, das Menschliche und das Übermenschliche. Im Untermenschlichen fühle ich mich wohl, im Menschlichen halte ich mich auf, und beim Übermenschlichen halte ich mich zurück.

Die Welt: Findet Weihnachten bei Ihnen statt?

Schlingensief: Es gibt für mich einen triftigen Grund, regelmäßig Weihnachten zu feiern, und das sind meine Eltern. Dieses Jahr feiern wir zum 45. Mal, das hat Jesus selbst nicht einmal geschafft. Aber jedes Jahr wird das Fest karger. Wir haben jetzt keinen Süßigkeiten-Teller mehr, es gibt keine Geschenke, und von echten Kerzen sind wir auf künstliches Geflimmer umgestiegen. Weil mein Vater unter einer fortschreitenden Erblindung leidet, tat ihm irgendwann das Kerzenlicht in den Augen weh. Wir feiern ein entmülltes Weihnachten.

Die Welt: Aber Sie feiern.

Schlingensief: Ich sage mir schon seit Jahren: Vielleicht ist es das letzte Mal. Es ist das Gegenteil von Heinrich Bölls „Nicht nur zur Weihnachtszeit“. Seit zehn bis 20 Jahren feiere ich immer das letzte Weihnachtsfest. Ich fürchte, daß es eines Tages mit meinen Eltern auch für mich sterben wird. Dann werde ich da sitzen und mich erinnern an die Uhr, die tickte.

Die Welt: Singen Sie Weihnachtslieder?

Schlingensief: Das ist vorbei. Meine Mutter hat bis vor einigen Jahren aus einer großen, schweren Bibel vorgelesen, die sie irgendwann nicht mehr halten konnte.

Die Welt: Schmücken Sie einen Tannenbaum?

Schlingensief: Wir haben etwas Grünes um eine Kerze. Meine Mutter sitzt im Rollstuhl, sie ist froh, wenn sie mit einer Krücke drei Schritte tun kann. Wenn ich Kinder hätte, würde ich wahrscheinlich den großen Zirkus veranstalten. Es bleibt mir erspart.

Die Welt: Gehen Sie in die Kirche?

Schlingensief: Wir hatten einmal eine Ferienwohnung im Sauerland, da gab es so eine Diaspora-Kirche. Da kam der Priester mit seinem Meß-Koffer angereist. Ein schwerer, völlig verschrumpelter Jesus hing an zwei ganz dünnen Seilchen über seinem Kopf. Ich habe immer wie gebannt hingeschaut. Wenn die Bauern dann „Großer Gott, wir loben dich“ sangen, stießen sie Fahnen kalter Luft aus ihren Mündern: Das war großartig.

Die Welt: Wie geht es Ihnen nach Weihnachten?

Schlingensief: Gut. Auch erschöpft. Wir haben zwei Betreuer für meine Eltern, von denen vielleicht einer über Weihnachten bleiben wird. Da ist viel zu tun. Mein Vater ist dem Tod kürzlich knapp von der Schippe gesprungen. Ich war in Namibia, ein einziges Funkloch. Als ich endlich Handyempfang hatte, klingelte das Telefon, und ich bekam die Nachricht, mein Vater läge mit Magenbluten, Rippenfellentzündung und Herzinfarkt auf der Intensivstation. Mit 81 Jahren.

Die Welt: Konnten Sie zurückfahren?

Schlingensief: Es ging nicht. In der Nacht hatte ich starke Trauergefühle, aber ohne direkt beten zu können: „Gott, steh‘ ihm bei!“ oder „Antonius, Michael, Johannes, Thomas…: helft!“ Mir kamen nur Tränen über die Lippen. Als wir nach der Rückkehr aus Afrika zweieinhalb Wochen an seinem Bett saßen, ihn gepflegt und aufgepäppelt haben, und er sich tatsächlich berappelte, da habe ich mir gesagt: Ich weiß nicht, ob er das geschafft hätte, wenn man noch länger weggeblieben wäre.

Die Welt: Hatten Sie Mitleid?

Schlingensief: Nein, Mitleid ist für mich eines der größten Übel unserer Zeit. Man betrauert eigentlich nur sich selbst, auch über Umwege. Das Leiden mit anderen knüpft man ganz automatisch an die Bedingung, daß man von der Trauer auch was für sich selbst abhaben will. Da wird der eigentlich Leidende schnell zur Nebensache. Mitleid heißt, sich immer nur durch den eigenen Kakao zu ziehen. Ich habe sogar bei meinem Vater im Krankenhaus entschieden, ihn nicht mehr zu bemitleiden. Er hat sein Leben gelebt. Dieses Leben hatte seine Zwänge, so wie jedes Leben seine Zwänge hat. Auch was seine Blindheit angeht, verspüre ich momentan kein Mitleid mehr. Es tut mir leid, das ist schon klar. Aber ich leide nicht mit, weil ich dann selber Sehstörungen kriege.

Die Welt: Sie waren als Kind Meßdiener. Wie lange?

Schlingensief: 13 Jahre, von 1966 bis 1979. Als guter Meßdiener hatte ich zwei bis drei Vorstellungen in der Woche, für einen Schauspieler ein guter Schnitt. Meine erste Messe habe ich völlig vermasselt. Zwanzig Frauen, einschließlich meiner Mutter, saßen in der Herz-Jesu-Kirche in Oberhausen, und ich habe alles falsch gemacht. Als ich schließlich zur Sakristei abging, packte mich der Pfarrer beim Kragen und raunzte: „Zurück zum Altar, Kniebeuge vergessen!“ Anschließend habe ich geheult und war völlig fertig.

Die Welt: Eine Initialzündung?

Schlingensief: Ja, eine Feuertaufe. Der Monsignore hat mir dann einen entscheidenden Satz mit auf den Weg gegeben: „Egal, was du machst, welche Fehler du begehst und welche Katastrophen du verursachst, eines steht fest: Der Papst bleibt bei seinem Glauben.“ Das war meine Botschaft im Jahr 1966, morgens gegen 6.45 Uhr. Seither will ich es gut machen. Das hat eine Sehnsucht in mir erzeugt.

Die Welt: Haben Sie heute noch Glaubensbedarf?

Schlingensief: Ich habe Wissensbedarf. Die Kombination von Wissensdrang und Ungläubigkeit kann tödlich sein – glaube ich. Das interessiert mich. Ich habe vor allem einen immensen Bedarf, in unbekanntes Terrain vorzustoßen. Ich suche immer noch den Ort, an dem es niemanden interessiert, daß ich einmal „Tötet Helmut Kohl!“ gerufen habe. Ich weiß, daß es ihn gibt. Aber ich kann es nicht glauben…

Die Welt: Wäre es vorstellbar, daß sie einer Partei beistehen außer der eigenen?

Schlingensief: Ich denke nicht. Es juckt einen ja immer, seinen Senf dazuzugeben, wenn man sieht, wieviel Schwachsinn und Heuchelei da praktiziert wird. Ich denke aber mehr in Bildern als in Botschaften. Werner Brecht, einer meiner Lieblingsschauspieler, ist vorletztes Jahr gestorben. Er hatte ein sehr schwaches Herz, brauchte seine ganze Luft zum Atmen und hielt sich deshalb mit ausufernden Ansprachen zurück. Als die Ärzte ihm zur Operation rieten, mußte er sein Blutgerinnungsmittel absetzen. Das war sein Todesurteil. Wenn jemand wie er ans Mikrophon trat und öffentlich schwieg, dann sagte das mehr als jede Kampfparole. Glauben bedeutet, nach Bildern zu suchen. In eine Partei zu gehen heißt, mit Bildern um sich zu werfen.

Die Welt: Wie finden Ihre Eltern, was Sie machen?

Schlingensief: Sie sind noch nicht vom Glauben abgefallen. (Lacht.) Sie haben mitgelitten, aber kein Mitleid gehabt, wenn Dinge schiefgingen. Als ich in Bayreuth bei den Proben zu „Parsifal“ nach zwei Wochen aufhören wollte, sagte mein Vater: „Du wirst dich dein Leben lang ärgern. Das machst du schön zu Ende.“

Die Welt: Wie haben Sie die Krise bei den „Parsifal“-Proben überwunden?

Schlingensief: Ich habe Wolfgang Wagner davon überzeugt, daß Kundry in Wirklichkeit eine Schwarze ist.

Die Welt: Wie das?

Schlingensief: In den Regieanweisungen Wagners steht, daß Kundry einen „knöchellangen“ Schlangenrock trägt. Europäische Schlangen reichen aber nur bis zum Knie. Mit diesem Ausflug in die Tierkunde hatte ich ihn! Übrigens sind in Bayreuth selbst die Buhs saftig und lustvoll. In Bayreuth bin ich immer gestärkt und aufgetankt von der Bühne gewankt.

Die Welt: Warum haben Sie eigentlich nicht mitgespielt?

Schlingensief: Man hätte es für eitel gehalten. Ich gehe in Deutschland auch in keine Talkshow mehr. Ich bin bis auf weiteres nicht mehr auf Sendung.

Die Welt: Hatten Sie Angst vor der „Parsifal“-Premiere?

Schlingensief: Total. Ich war innerlich zerrissen und habe gelitten wie ein Schwein. Ich wußte: Die Arbeit ist gut geworden. Und das hat anschließend viele überrascht! Sie hat gezeigt, daß ich mit Bildern umgehen kann. Vorher war es für mich natürlich klar zu denken, daß Bayreuth meine letzte Prüfung werden würde, ganz im Sinne des „Parsifal“-Textes „Zum letzten Mal…“. Parsifal ist wie Tinnitus. Der geht nicht mehr weg, wenn man ihn einige male gehört hat. Auf jeder Probe habe ich die Szenen wieder und wieder gehört und es total genossen.

Die Welt: Haben Sie sich in Ihren Arbeiten stark verändert?

Schlingensief: In meinem Leben gab es vier wichtige Stationen: 1968 habe ich versehentlich einen Film meines Vaters doppelt belichtet und entdeckt, was man damit alles machen kann; 1979 habe ich nach geplatztem Blinddarm, sechs Wochen Krankenhaus und einem sehr dilettantischen Selbstmordversuch meinen Lehrer Werner Nekes kennengelernt; 1993 kam der Wechsel zum Theater; 2004 Bayreuth.

Die Welt: Gibt es etwas, das Ihnen heilig ist?

Schlingensief: Meine Eltern. Meine Freundin. Meine Freunde. Und das Gefühl: Es ist noch lange nicht vorbei.

Die Fragen stellte Kai Luehrs-Kaiser
Artikel erschienen am Do, 22. Dezember 2005