SCHICKSALSMELODIEN (OPERNWELT)

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Am Wiener Burgtheater meldet sich Christoph Schlingensief mit dem Pasticcio «Mea culpa» zurück

Das eigene Sterben, den eigenen Tod öffentlich auszustellen, war lange ein Tabu. Inzwischen ist die (Selbst-)Darstellung des Lebensendes sogar auf dem Boulevard anzutreffen: Über Monate beherrschte in Großbritannien eine junge Frau namens Jade Goody die Medien, die durch eine britische «Big Brother»-Staffel zu zweifelhafter Bekanntheit gekommen war und nach einer Krebsdiagnose die tödliche Krankheit medial vermarktete. Am Wochenende ihres Todes meldete sich Christoph Schlingensief – auch er sucht seit der Entdeckung einer Krebserkrankung die mediale Offensive – mit seinem aktuellen Projekt «Mea culpa» am Wiener Burgtheater zurück. Nach dem Bayreuther «Parsifal», einem «Fliegenden Holländer» in Manaus und Walter Braunfels’ «Johanna» an der Deutschen Oper Berlin unternimmt er hier einen neuen Ausflug ins Musiktheater – und präsentiert eine «ReadyMadeOper», in der sich Vorgefundenes und Neues wie in einem Pasticcio mischen.

Zweieinhalb Stunden setzt sich der Regisseur, Filmemacher und Aktionskünstler mit seinem Schicksal auseinander, zeigt mögliche Ursachen auf, karikiert Wunderheilungen (ein Ayurveda-Zentrum mit bizarrem Leitungsteam), baut Brücken ins Jenseits, das er sich so lange wie möglich als Lebender vorstellen möchte. Auf der Drehbühne von Janina Audick rotiert viel Bekanntes aus dem Arsenal früherer Schlingensief-Arbeiten: manches aus dem Bayreuther «Parsifal», etwa ganze Sequenzen der Projektionen, aber auch ein «Zauberberg» des Klinikalltags, den eine Truppe typischer Schlingensief-Schauspieler bewohnt – darunter Irm Hermann und die (körperlich) kleine Karin Witt. Am Ende wird auf der Bühne jenes afrikanische Festspielhaus sichtbar, von dem Schlingensief seit Langem träumt. Ein Symbol seiner Hassliebe zum Grünen Hügel.

Durch diesen Stoff hat Schlingensief gemeinsam mit dem Dirigenten und Komponisten Arno Waschk einen Opernparcours gebaut – «auf dem Rücken von Johann Sebastian Bach, Joseph Beuys, Johann Wolfgang Goethe, Edvard Grieg, Jörg Immendorff, Derek Jarman, Elfriede Jelinek, Emmerich Kalman, Søren Kierkegaard, Gustav Mahler» und vielen anderen mehr. Zusammengehalten wird die heterogene Text- und Musiklandschaft von der Kranken- und Schaffensgeschichte des 1960 geborenen Multikünstlers. Schlingensief tritt sogar selbst auf, kommentiert Werksequenzen, liest aus Werken anderer Autoren zu seinem Lebensthema. Er scheut sich nicht, intime Einsichten mitzuteilen. Und doch gerät der Abend nie zur reinen Nabelschau. Einiges erzählt Schlingensief auch durch einen Schlingensief-Darsteller (Joachim Meyerhoff) – den Augenblick der Diagnose, die Selbstzweifel angesichts einer Kritik, die ihm den Ernst seiner Kunst nicht abnimmt, die Angst vor dem Tod und dem, was danach (nicht) kommt. Mit all dem nimmt er den Zuschauer hart ran, lässt ihn aber auch immer wieder lachen über das finale Thema des Menschen.

So wie in «Mea culpa» hat Schlingensief selten inszeniert: Der erste Teil läuft fast wie ein Musical ab. Arno Waschk rührte für diese Seelenschau ein überrumpelnd mächtiges Gebräu aus «Parsifal», Chorälen und Broadway-Nummern an und servierte die gut gewürzte Tonsuppe mit den Klängen eines 65-köpfigen Orchesters samt Chor. Die von Waschk beigesteuerten Eigenkompositionen reichen stilistisch von Wagner bis Schönberg und darüber hinaus, bleiben indes stets originell und eigensinnig. Den Autoren geht es nicht um klassischen Wohlklang und Schöngesang: Der abschließende Liebestod aus «Tristan» etwa wird in der feinfühligen Interpretation einer greisen Schauspielerin als süß verlockende Diseusen-Nummer zelebriert.

Doch Christoph Schlingensief, sagt sein Bühnen-Alter-Ego, «will noch nicht». Er muss erst seinen Traum verwirklichen, das Festspielhaus für Afrika. Und noch viel anderes erledigen: Das Buch über seine Krankentage ist aufgelegt, die erste Suche nach Standorten für ein afrikanisches Neu-Bayreuth hat er hinter sich. Und «Mea culpa» wird länger gespielt als geplant: Wegen des enormen Erfolgs sollen im Juni weitere Aufführungen an der Burg stattfinden. Schon gibt es Anfragen für Gastspiele. Christoph Schlingensief ist zurück – und hat offensichtlich noch viel zu sagen.

Claus Ambrosius / opernwelt / Seite 68 / Mai 2009