In Kreuzberg fliegen Steine, auf dem Berliner Theatertreffen die Oblaten: Christoph Schlingensief eröffnet das Festival mit seiner „Kirche der Angst“
Von Rüdiger Schaper
Wie oft schon gab es beim Theatertreffen die unangenehmsten Transportschäden. Die Jury wählt etwas in Wien oder München oder gar in der sogenannten Provinz begeistert aus, die Lastwagen kommen hier an, laden aus – und böse Überraschung! Die Aufführung funktioniert nicht in der fiesen Hauptstadt, das Publikum ist not amused. Diesmal scheint alles anders zu sein. Die Techniker der Ruhr- Triennale und der Berliner Festspiele haben Hervorragendes geleistet, Sponsoren und staatliche Kulturinstitutionen haben sich angestrengt, auf dass Christoph Schlingensiefs Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir in Berlin zur Eröffnung des Theatertreffens gezeigt werden kann.
Und der Auftakt war feierlich, hier passt das Wort einmal. Schlingensiefs unbändiger Lebenswillen steckt an. Seine auratische Präsenz spüren nicht nur die dreihundert Zuschauer auf der Seitenbühne, die zu einer modernen Kirche umgebaut wurde, sondern auch die vierhundert Menschen, die die Vorstellung im Foyer auf der Leinwand verfolgen. Hortensia Völckers, die künstlerische Leiterin der Bundeskulturstiftung, hält eine Rede voller Empathie. Sie spricht von jener seltsamen Erfindung des Mimenspiels, in dem sich der Homo sapiens wiedererkennt. Schlingensiefs Kunst, sein Kampf gegen den Krebs, rührt an die tiefsten emotionalen Schichten. Lange sitzt man draußen um das Lagerfeuer im Festspielgarten und versucht zu verstehen, was da vor sich geht, spirituell und intellektuell. Was geschehen ist seit September vergangenen Jahres, als Schlingensiefs „Fluxus-Oratorium“ im Duisburger Industriepark Nord seine Uraufführung erlebte.
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Damals war man nur überwältigt – allein schon von der neoromanischen Architektur der Thyssen-Gebläsehalle, dieser Kathedrale der Schwerindustrie. Wer Duisburg erlebt hat, die an ein Wunder grenzende Wiederkehr des Künstlers aus der Klinik, wird es nie vergessen. Dieses aufwühlende Hochamt für Agnostiker. Und es musste auch klar sein, dass ein solcher Moment unwiederholbar wäre.
Schon im Oktober, bei einer kleineren, rauen, tiefschwarzen Version der Kirche der Angst im Gorki-Studio in Berlin, war wieder alles anders, die Aufführung verschattet von einer neuen und bedrohlichen ärztlichen Diagnose. Und nun, da er in der Zwischenzeit mit Mea Culpa eine große Readymade-Oper am Burgtheater in Szene gesetzt und ein Buch herausgebracht hat, verschiebt sich die Wahrnehmung ein weiteres Mal.
Schlingensiefs Kunst ist nicht von seinem Leben, seiner Gesundheit zu trennen. So glaubte man. Jetzt aber verselbständigt sich die Kirche der Angst ein Stück von ihrem Gründer und Erfinder. Die Waagschale neigt sich zum Theater hin, zum inszenierten Spiel. Die flirrenden, flackernden Filmprojektionen, die Prozessionen, die donnernden Chöre, die auf dem Krankenbett diktierten Texte wirken wie Bestandteile eines transparenten Ganzen, die Temperatur kühlt unweigerlich ab im Festivalbetrieb. Christoph Schlingensief ist wieder auf der Erde angekommen. Es geht ihm besser.
Er wird gefeiert. Wann je wurde einem Theater- und Performancekünstler solche Zuneigung entgegengebracht? Die Zyniker sind verstummt. Das Wort autonom hat am Abend des 1. Mai, wenn Schlingensief am Fluxus-Altar steht und den Abendmahlritus variiert („Trinkt euer eigenes Blut!“), einen eigentümlichen Klang. In Kreuzberg brennt’s, auf dem Theatertreffen fliegen Oblaten. Autonom gegenüber einer inhumanen Medizinmaschinerie, autonom im Kulturbetrieb, das ist Schlingensiefs Vision. Wie er da steht, wirkt er wie ein Friedensfürst.
Der Raum überprüft uns, so steht’s zu Beginn der theatralen Messe geschrieben. Und es ist wahr: Der Raum hat die Botschaft verändert. Denn es ist ein Theaterraum, hier sind Theatererinnerungen lebendig. Hier muss wieder zum Kunstwerk werden, was einmal die Grenzen zur Realität überschritten hat. In solchen Grenzbereichen zu leben und zu arbeiten, hoch oben in der Kuppel, wie Kafkas Trapezkünstler, das hält keiner aus.
Am Samstagabend hat Christoph Schlingensief wieder gezeigt, was für ein außergewöhnlicher Entertainer er ist – im Gespräch mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der Journalistion Carolin Emcke und dem Regisseur Volker Lösch. Die Zeit des Leidens scheint vorüber, die Aufzeichnung für den ZDF-Theaterkanal nimmt er spielend allein in die Hand: Er redet so feurig wie locker über Afrika und Joseph Beuys, seinen Ruhrgebietskatholizismus und das heidnische Berlin: „Ich möchte im Himmel nicht alle Leute wiedertreffen.“ Nach dem Gottesdienst hat Christoph Schlingensief auch die Lacher auf seiner Seite. Nie war er so einnehmend wie heute. Steinmeier versprach ihm Unterstützung für das Festspielhaus in Afrika. Iin Kamerun, Burkina Faso oder Mosambik soll es entstehen, das neue Bayreuth.
ZEIT ONLINE 6.5.2009