So unerschrocken, wie er sich immer dem Leben gestellt hat, begegnet Christoph Schlingensief jetzt seiner tödlichen Krankheit. Alles, was ihm widerfährt, was ihn bewegt, wird Kunst. Das macht seine Arbeit so persönlich, ehrlich und unbequem.
Mutig ist er. Er spricht aus, was viele nicht wahrhaben wollen, und das in einer Lautstärke, die es unmöglich macht, ihn zu überhören. Inzwischen ist Schlingensief zwar ein bisschen ruhiger geworden, dafür aber intensiver – und noch persönlicher.
„Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“
Mit Ende 20 dreht er Filme mit Stars wie Udo Kier, aber ohne Geld. Seine Deutschlandtrilogie „100 Jahre Adolf Hitler“, „Das deutsche Kettensägenmassaker“ und „Terror 2000“ machen ihn nicht nur bekannt, sie etablieren ihn als Provokateur. Die FAZ findet ihn „scheiße“, die Frankfurter Rundschau „genial“ – ein Dazwischen gibt es nicht. Und das bleibt auch so – bei allem, was Schlingensief anpackt.
„Sucht die Revolution. Sie ist machbar!“
1997 ist eines der wichtigsten Jahre in Schlingensiefs Schaffen. Er verlagert seinen Schwerpunkt vom Filmemachen auf Aktionstheater. Auf der documenta X schockiert er das Publikum mit der Performance „Mein Filz, mein Fett, mein Hase“, denn in der Orangerie hängt er ein Plakat auf: „Tötet Helmut Kohl“. Die Polizei findet, dass hier eine Aufforderung zu einer Straftat vorliege und nimmt Schlingensief mit aufs Revier. Solche Aktionen erregen zwar kurzzeitig viel Aufmerksamkeit, aber um noch mehr Menschen zu irritieren, reicht es Schlingensief nicht, in die Nachrichten zu kommen. Er muss richtig ins Fernsehen. Auf Kanal 4 startet er die Reihe „Talk 2000“ und macht es sich als Talkmaster zur Aufgabe, sowohl das Studiopublikum zu provozieren als auch seine prominenten Gäste aus dem Tritt zu bringen. Jede Sendung artet in totales Chaos aus und nicht selten gibt es auch noch ordentlich was auf die Mütze – meistens für Schlingensief.
„Bitte liebt Österreich“
Das Image vom Bürgerschreck festigt sich und Schlingensief sucht immer neue Wege, seine Kritik so zu äußern, dass er damit den richtigen Leuten auf die Nerven geht. Er versucht alle Arbeitslosen Deutschlands zu einem Protestbad zu bewegen, auf dass der Lieblingssee des Kanzlers überlaufe. Er stellt einen „Ausländer raus“-Container vor die Wiener Staatsoper, setzt zwölf Asylbewerber hinein und spielt „Big Brother“ mit rauswählen und allem Drum und Dran. Er verflucht Jürgen Möllemann mit einem aufsehenerregenden Voodoo-Zauber.
Bis er an einen Mann gerät, der sich nicht provozieren lässt. Als Schlingensief 2004 Wolfgang Wagners Angebot annimmt, den „Parsifal“ für die Bayreuther Festspiele zu inszenieren, ahnt er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass er sich am Festspielleiter die Zähne ausbeißen wird. Immer wieder rennt Schlingensief mit seinen Ideen gegen eine Wand namens Wagner. Das zehrt an seinen Kräften.
„Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt“
Anfang 2008 erfährt Schlingensief, dass er Lungenkrebs hat. Intensiver denn je bringt er Leben und Arbeit zusammen. Er zeichnet seine Gefühle und den Krankheitsverlauf per Diktiergerät auf und veröffentlicht es als Krebstagebuch. Er inszeniert den Krebs in seinen Theaterprojekten und lässt damit eine Nähe zu, die einigen Zuschauern zu viel ist, aber alle tief beeindruckt. Persönlich war seine Arbeit schon immer, aber nie war sie so sehr sein Leben wie jetzt. Damit entfaltet Schlingensief eine größere Wucht als mit all seinen früheren Arbeiten zusammengenommen. Wo andere Künstler einen Strich ziehen und Kunst und Leben trennen würden, um sich abseits der Öffentlichkeit mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen, zeigt Schlingensief, dass er von allen der konsequenteste ist. Mutig eben.
Bayern2 KulturWelt, 07.05.2009