„DAS BEWEGENDE ZEUGNIS EINES UNBÄNDIGEN LEBENSWILLENS“ (KÖLNER STADTANZEIGER)

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Christoph Schlingensief hat Lungenkrebs – und redet sich die Krankheit von der Seele. Sein jetzt erschienenes „Tagebuch einer Krebserkrankung“ ist die erschütternde Dokumentation eines Mannes, der unbändigen Lebenswillen versprüht.

Von Horst Willi Schors

BERLIN – Es ist das reinste Horrorbuch und doch das bewegende Zeugnis eines unbändigen Lebenswillens trotz manchmal tiefster Verzweiflung und «aufschreiender Seele», eines Mannes, der doch glaubte, «das große Los in diesem Leben» gezogen zu haben.

Schlingensief weiß, dass viele andere Menschen das gleiche Schicksal wie er erleiden und von einem Tag zum anderen aus der Bahn geworfen werden, sich dann vollkommen zurückziehen und schweigen. Aber der 48-jährige Theaterregisseur will nicht alles in sich «hineinfressen, alles immer nur nach innen kehren», sondern aufschreiben, mitteilen und sogar auf der Bühne verhandeln wie zuletzt mit seiner umjubelten «Mea culpa»-Inszenierung Ende März am Wiener Burgtheater oder in der «Kirche der Angst vor dem Fremden in mir» bei der Ruhrtriennale, mit der er am 1. Mai auch das Theatertreffen deutschsprachiger Bühnen in Berlin eröffnen wird.

Schlingensief schildert das in seiner Situation wohl unvermeidliche Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Auflehnen gegen «diese Bestrafung» («Vielleicht habe ich auch nicht richtig gelebt»), die im Januar 2008 mit der schrecklichen Diagnose Lungenkrebs begonnen hatte. Im Dezember 2008 wurden weitere Metastasen im einzig verbliebenen Lungenflügel diagnostiziert, die nach Medikamentenbehandlung aber wieder verschwunden sind. «Der Krebs ist weg, der Einschnitt bleibt.» Diagnose, Operation, zwölf Wochen Chemo, verschiedene Prognosen – «Körper und Seele werden einfach nur noch durchgenudelt».

Achterbahn des Lebens

Ein Auf und Ab der Gefühle, eine Achterbahn des Lebens, die keine Theateraufführung wirklich darstellen oder vermitteln kann. Auch das hat ein Schlingensief inzwischen gelernt, der im Krankenbett auch starke Selbstzweifel an seiner bisherigen Künstlerlaufbahn notiert. Er muss an den mit 37 Jahren gestorbenen Filmregisseur Rainer Werner Fassbinder denken, «dessen Leben hat sich am Ende immer schneller, schneller, schneller gedreht».

Der Katholik Schlingensief hadert mit Gott, kauft sich ein Buch «Die Bibel. Was man wirklich wissen muss» und findet Trost bei einer Messe. Dann gibt es wieder Selbstmordgedanken, aber auch das Bekenntnis, «dass ich das Leiden aushalten muss», er will sich auch nicht «in der Schweiz einschläfern lassen, an irgendeiner Raststätte oder in einem Hotelzimmer – das ist ja grauenhaft, das hat doch mit Freiheit nix zu tun». Aber die Momente, «wo man denkt, man gehört nicht mehr so richtig dazu», sind auch schier unerträglich, und immer wieder «plötzlich die Angst, wie ein Windstoß, wie ein eiskalter Nebel, der um die Ecke kommen wollte».

Dann wieder neuer Lebensmut nicht zuletzt dank seiner Verlobten und Mitarbeiterin Aino, Psychologen bemühen sich um ihn, Telefonate mit Freunden und Kollegen wie Peter Zadek, die von ihrer Krankheit erzählen und ihm Mut machen. So wie auch Schlingensiefs Chefarzt, der die Operation vornahm und zu dem sogar so etwas wie ein Freundschafts- oder Vertrauensverhältnis entstand. Andere Klinikmitarbeiter, die ihn weiter behandelten, schockieren den Regisseur bei der Chemotherapie mit saloppen «aufmunternden» Worten wie «Wir geben jetzt volle Kanne, es gibt keine Gnade» und prophezeien: «Sie werden gelb werden, Sie werden stinken. Sie werden kahlköpfig. Ihre Freunde werden sich von Ihnen abwenden. Sie werden allein sein.»

So wie Schlingensief seine Krankheit mit seiner spektakulären Inszenierung von Richard Wagners Weltabschiedswerk «Parsifal» bei den Bayreuther Festspielen (2004-2007) in Verbindung bringt («Ich habe ein Tor geöffnet, das ich niemals hätte öffnen dürfen»), so gerne würde er auch noch weiterleben, um Wagners «Tristan und Isolde» noch zu inszenieren. Oder sein «Gelübde» zu erfüllen, ein Festspielhaus in Afrika ins Leben zu rufen. «Ich wäre froh, wenn sich dieses Afrikaprojekt als der Weg entpuppen würde, der zum Sieg über die Krankheit führt.» Und wenn nicht, dann lässt er sich dort eben von einer Kobra beißen, wie er im Tagebuch überlegt.

An Wiedergeburt glaubt Schlingensief nicht. Die «zentrale Frage» ist für ihn näherliegender – «wie ich diesen alten Halligalli- Christoph», der überall dabei sein und wahrgenommen werden will, «umbauen kann». Er hat ein tiefes Bedürfnis, «noch etwas Sinnvolles zu tun». Sehr viel Zeit räumt er sich dafür nicht mehr ein. «Tief in meinem Innern glaube ich, dass es sich noch um zwei oder drei Jahre handelt, die ich auf der Erde bin. Ist komisch, aber das spüre ich so.» (dpa)

KÖLNER STADTANZEIGER, 20.04.2009