„ES IST LIEBENSWÜRDIG, VERRÜCKT, EUPHORISCH (…)“ (DIE WELT)

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Regisseur Christoph Schlingensief hat ein berührendes Tagebuch seiner Krebserkrankung veröffentlicht. Sogar mit alten Feinden hat er seinen Frieden gemacht

Von Matthias Heine

Im Januar 2008 erfuhr der Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief, dass er Krebs hat. Ein Lungenflügel musste ihm entfernt werden. Nun liegt sein Tagebuch aus dieser Zeit als Buch vor. Es ist liebenswert, verrückt, euphorisch und ein bisschen geschwätzig. Eben wie der große Kindskopf Schlingensief.

Für einen Menschen, der voriges Jahr noch den Medien verbieten ließ, über seine Krankheit zu berichten, ist Christoph Schlingensief sehr gesprächig geworden. Aber wer könnte denn nicht nachvollziehen, dass auch dieser „Halli-Galli-Christoph mit seinem Bedürfnis, wahrgenommen zu werden“ (das schreibt er über sich selbst) erst mal mit seiner Krankheit allein sein wollte, nachdem ihm im Januar 2008 eine niederschmetternde Diagnose gestellt wurde?

Die blieb nicht lange geheim. In seinem Tagebuch notierte Schlingensief am 2. Februar: „Dass ich Lungenkrebs habe, dass ich einen brutalen Eingriff von fünf Stunden hinter mir habe? das quasselt irgendso ein Dödel in der Kneipe herum.“ Der Dödel war der Schauspieler Udo Kier, und nach seiner Kneipenquasselei gegenüber Journalisten ließ sich das Wort „Krebs“ auch mit anwaltlicher Hilfe nicht wieder einfangen.

Schlingensief hat es bald auch gar nicht mehr versucht, sondern hat in der ihm eigenen Weise die Flucht nach vorn angetreten: in die Kunst, die Selbstinszenierung und die (scheinbar) totale Öffentlichkeit. Das Ergebnis dieser Strategie waren bisher neben zwei Inszenierungen, die zum schönsten zählten, was der 48 Jahre alte Regisseur und Aktionskünstler bisher hervorgebracht hatte („Eine Kirche der Angst“ und „Mea Culpa“), vor allem Dutzende Interviews. Jetzt liegt auch noch sein „Tagebuch einer Krebserkrankung“ vor, das unter dem Titel „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ erschienen ist. Übrigens als erstes von Schlingensiefs Büchern im Hardcover – als wäre ein Taschenbuch zu trivial für die großen Themen Tod und Gott.

Noch in einem Eintrag vom 20. April 2008 rätselt Schlingensief darüber, wie es ihm wohl gelingen werde, sein früheres Ich „umzubauen“. Die Antwort lautet ein Jahr später eindeutig: gar nicht. Der post-operative Schlingensief ist eigentlich ganz der alte, mitteilsame Charmeur, den man lieben oder hassen muss – aber doch meistens eher lieben, vor allem, wenn man ihm persönlich begegnet.

Sogar ehemalige Feinde umarmen ihn: Eine Berliner Boulevardzeitung, die früher seine Volksbühnen-Inszenierungen zum Anlass für Skandalschlagzeilen nahm, hat ihm ihren Kulturpreis verliehen. Die Berlinale, die er einst mit liebevollem Hass verspottete, weil sie seine Filme nicht zeigen wollte, machte ihn 2009 zum Mitglied der Wettbewerbsjury. Und nun hat er auch noch einen richtigen Professorentitel der Kunsthochschule Braunschweig bekommen.

Was er durchmachen musste, um diese neue Liebe zu erringen, erzählt das Buch. Es beginnt mit einem Eintrag vom 15. Januar: „Heute Nachmittag habe ich entschieden, ein PET machen zu lassen ? Man kann mit diesen Bildern also den Tumor identifizieren und Metastasen finden Das einzige Problem ist, dass auch jede Entzündung zu sehen ist. Wenn die Bilder morgen also sagen, im Zentrum von meiner Lunge gibt es einen Tumor, dann ist das vielleicht nur eine Entzündung, die aussieht wie ein Tumor. Diese kleine Tür bleibt offen.“

Sie hat sich dann rasch geschlossen. Spätestens nach einer Punktierung herrscht Gewissheit: „Doktor Bauer hat uns heute in sein Zimmer geholt und war direkt bei der Sache ? Das ist ein Ardenokarzinom. Das muss sofort raus. Und es würde jetzt eine harte Zeit auf mich zukommen, eine verdammt harte Zeit. Das werde kein leichter Weg: Operation, Chemo und Bestrahlung.“

Dieses Tagebuchzitat kennen Theaterbesucher schon aus Schlingensiefs Inszenierung „Eine Kirche der Angst“ im Mülheim, mit der er sich im Herbst 2008 persönlich als Regisseur zurückmeldete (die Oper „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ wurde ja nur von einem Team nach Schlingensief Anweisungen vom Krankenbett inszeniert). Das war damals noch berührender, erschreckender und auch peinlich, weil auf der Bühne eingespielt wurde, was er während der Krankheit ins Diktafon gesprochen hatte. Entsprechend jämmerlich und verheult klang seine Stimme.
In der Nacht nach der Operation hört Schlingensief im Krankenhaus ein Kind schreien, und er bittet Gott, er solle doch ihn sterben und das Kind leben lassen. Doch als dann der Apparat, der seine Lebensfunktionen überwacht, plötzlich Alarm schlägt, fleht er Maria an: „Bitte, bitte, ich will leben, ich will noch ganz lange leben, ich hab noch ganz viel zu tun. In dem Moment hört das Kind auf zu schreien. O Gott, denke ich die haben mich beim Wort genommen, das Kind ist tot. So ein Mist, jetzt lebe ich und das Kind ist tot.“ Später erfährt er, dass das Kind wohlauf ist und nur eine leichte Operation hatte. Solche heimtückischen Händel sind nicht Gottes Art.

Vom Allmächtigen ist naturgemäß viel die Rede, wenn der ehemalige Messdiener und Religionsleistungskurs-Schüler Schlingensief dem Tod ins Auge sieht. Unter Karfreitag, dem 21. März, steht ein Eintrag, der in jedes christliches Erbauungsbuch gehört: „Das Gottesprinzip ist im Laufe des Jahrhunderte zu einem Prinzip der Schuld und des Leidens verkommen. Warum ist das Gottesprinzip kein Freudenprinzip? Warum denkt man nicht an Gott und preist ihn, wenn man sich freut, auf der Welt zu sein, wenn man sich freut, dass tolle Sachen passieren? Warum kommt er immer erst dann ins Spiel, wenn man feststellt: Na klasse, Familie weg und Krebs und wieder kein Sechser im Lotto.

Man müsste das Gottesprinzip viel stärker als frohe Botschaft etablieren, als frohen Gedanken, als Freiheitsgedanken, als Friedensgedanken. In jedem Kopf, in jeder Religion, in jedem Wesen, überall.“ Dieser Aufgabe hat der Künstler Schlingensief sich zuletzt mit einer Energie gewidmet, die einem Angst macht, er könnte sich selbst quasi verbrennen, bevor ihm der Krebs etwas anhaben kann?

WELT, 20.04.2009