Christoph Schlingensief schrieb sein Krebs-Tagebuch.
von Julia Emmrich
Es ist nicht der erste Krebsbericht eines Prominenten, aber vielleicht der ehrlichste: Der Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief hat sein Leben nach der Diagnose „Lungenkrebs” per Tonband aufgezeichnet. So ist ein Tagebuch entstanden – von einem, der sich frei denken will aus dem Käfig der Krankheit, der mit seinem Glauben ringt, der mal labert, immer liebt und ganz bewusst öffentlich leidet.
„Ich will mein Sterben aushalten“
[…] Anfang 2008 kam die Diagnose: Lungenkrebs. Schlingensief hat gekämpft, hat Medikamente genommen, einen Lungenflügel verloren. Im Herbst scheint der Krebs vorerst zurück gedrängt. Der Regisseur arbeitet wieder, Ende September wird sein Stück „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir” bei der Ruhrtriennale in Duisburg uraufgeführt. Schon hier arbeitet Schlingensief mit seinen Tonbandaufzeichnungen. Helge Malchow, Verleger bei „Kiepenheuer & Witsch”, will daraus ein Buch machen. Titel: „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!”.Kein trauriges Buch
Wenige Wochen später hat Lektorin Stephanie Kratz die Aufzeichnungen auf dem Tisch. „Die Arbeit mit Christoph war niemals belastend”, sagt sie im Rückblick, „es ist auch eigentlich kein trauriges Buch geworden.” Sondern ein lebensbejahendes, ein durchaus politisches Buch. Sterbehilfe etwa kommt für die Katholiken Schlingensief nicht in Frage. „Ich will mein Sterben aushalten.”
Doch es gibt auch Rückschläge. Kleine und große. Mitte November finden die Ärzte erbsengroße Metastasen im zweiten Lungenflügel. „Der Krebs ist wieder da”, diktiert Schlingensief am 3. Dezember. „Ich wollte noch 35 Mal Weihnachten feiern. Und jetzt sitze ich bei meiner Mutter in Oberhausen und erkläre ihr, Mama, stell dir vor, dieses Weihnachten kann tatsächlich das letzte sein. Als ginge es um Weihnachten.”
„Kirche der Angst“
Am 1. Mai wird Schlingensiefs Triennale-Stück „Kirche der Angst” das Theatertreffen in Berlin eröffnen. […] „Ich gieße eine soziale Plastik aus meiner Krankheit”, hat Schlingensief Anfang Dezember diktiert. Auch da ist er nicht der erste: Die 2004 an Krebs verstorbene amerikanische Essayistin Susan Sonntag hatte bereits 1978 mit ihrem Buch „Krankheit als Metapher” über das Stigma des Krankseins, die Wahrnehmung Krebskranker in der Öffentlichkeit und den vermeintlichen Verlust der Selbstbestimmung als Krebspatient geschrieben. Schlingensief geht die Sache weniger akademisch an, sondern spontan, salopp, trotzig: „Eigentlich fühle ich mich wie der kleine Christoph vor einer Klassenarbeit, als ich schon wusste, dass es eigentlich nichts werden kann. Na ja, manchmal ist ja dann auch ein Wunder eingetreten.”
WAZ vom 21.04.2009,