Schwarze Oper: Christoph Schlingensief inszeniert „Mea Culpa“ an der Wiener Burg – eine Farce, eine Grenzerfahrung, eine Schlacht. Der Schamane beherrscht das Chaos und träumt – von seinem Festspielhaus in Afrika.
Von Rüdiger Schaper
Lange Schatten wirft das 19. Jahrhundert, zumal in Wien. Eine schöne, unheimlich schöne Ausstellung ist dort in der Albertina zu sehen. Sie zeigt die „Fotografie und das Unsichtbare“, und dieses technisch-künstlerische Kuriositätenkabinett korrespondiert auf ebenso schöne und unheimliche Weise mit Christoph Schlingensiefs neuer theatralischer Expedition „Mea Culpa“ am Burgtheater. Spirituelle Kräfte sind am Werk.
Was haben diese Wissenschaftler und fotografischen Pioniere zwischen 1840 und 1900 nicht alles auf hochempfindliche Platten gebannt! Röntgen- und Mikroskopaufnahmen von Fischen und Pflanzen, Bilder von Blitzen am Himmel und elektrischen Entladungen auf der Haut, die auratischen Strahlungen menschlicher Medien, die Oberfläche des Mondes und die Flugbewegung der Vögel, eine Sonnenfinsternis und die Geburt einer Laus. Wie fantastisch kommt die Welt hier durcheinander – und ins Lot. William Henry Fox Talbots „ Mikrofotografie von Mottenflügeln“ springt ins Auge, als habe die entschlüsselte Natur einem Gustav Klimt und seiner dekorativen „Adele“ (heute eines der teuersten Gemälde der Welt) den Weg vorgezeichnet.
Zum Geheimnis will auch der Schamane Christoph Schlingensief zurück. Zum Ursprung des Gesamtkunstwerks. Tief hinein in den Stollen unter dem Grünen Hügel, wo die Mythen der Moderne schlummern, zurück in die Zeit vor Freud, als Hysterie Kunst war und noch kein klinisches Phänomen. Zurück zum Menschlich-Animalischen. Ein weiteres Mal beschwört er Richard Wagner, Joseph Beuys und seinen Lungenkrebs („Ich gieße eine soziale Plastik aus meiner Krankheit. Die Krankheit ist die ultimative perverse Kunstform.“). Wirft Heerscharen von Musikern, Choristen, Gesangssolisten und Schauspielern in die innere Schlacht um sein Leben, seine Kunst. Stopft eine wabernde, wogende „Ready- Made-Oper“ in die Burg, die in der Vision eines Festspielhauses in Afrika gipfelt.
Diesmal aber ist es eine Morgendämmerung der Schlingensief’schen Hausgötter. Eine Opern-Farce. Mit Musicaleinschlägen: Es lässt sich gar nicht sagen, was der Komponist Arno Waschk alles zusammenrührt und sampelt, von „Parsifal“ bis Roy Orbison und wummernden Horrorfilmklängen. Darsteller wuseln über die Drehbühne, Filmprojektionen flimmern wie Trockengewitter über Mensch und Material. Schlingensiefs Überblendungstechnik hat sich perfektioniert, das Chaos wirkt beherrscht. Es ist der dunkle Untergrund der komischen Attacken, mit denen er aus der Hermetik der Todesvisionen ausbricht – keine Himmelfahrtsmesse wie vor einem halben Jahr bei der Ruhr-Triennale, als Schlingensief seine „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ zelebrierte, mit Krankenbettszenen und letzten szenischen Ölungen und Wirren.
Die Duisburger Grenzerfahrung kann man nicht wiederholen. Es war eine einmalige, erschütternde, erhebende künstlerische Heldentat, und es gab damals Kritiker, die sich weigerten, darüber zu schreiben, weil es zu intim gewesen sei. Das war es in der Tat. Entblößung. Selbstbeschwörung. Und doch soll Schlingensiefs Krebs-Requiem am 1. Mai das Berliner Theatertreffen eröffnen – kaum vorstellbar. Denn die Zeit ist, gottlob, darüber hinweggegangen.
Christoph Schlingensief geht es besser. Er reflektiert die zurückliegenden anderthalb Jahre im Zeichen der Krebserkrankung, der Operation, der Erholungsphasen. „Mea Culpa“ ist darum aber nicht weniger persönlich. Nur leichter zu ertragen. Plötzlich tut sich ein weißer Speisesaal auf, gepflegtes Interieur, bevölkert von Lemuren. Wir sind Gäste einer Ayurveda-Klinik, mit Margit Carstensen und Irm Hermann als schwarze Wellness-Engel. Eine ätzende Satire, wenn auch etwas gezwungen. Aber es muss heraus, es muss bewältigt sein, dieses Leise- und Langsamtreten der entmündigenden Kuren.
„Mea Culpa“, sagt Dramaturg Carl Hegemann, „ist die Antwort auf die zentrale Frage Schlingensiefs und vieler kranker Menschen: Wer ist schuld? Die Antwort lautet: Der Fragende selbst! Dem souveränen Kranken ist es lieber, die Schuld an seinem Elend auf sich zu nehmen, als seine Souveränität preiszugeben.“ Joachim Meyerhoff, sonst ein Schauspieler-Berserker, spielt hier eine auffällig ruhige, beobachtende Rolle, den reinen Toren Parsifal. Ein sediertes Schlingensief’sches Alter Ego. Eine Travestie des fragilen Multimedia-Titanen, dem es an Selbstironie nicht mangelt. Meyerhoff steht in seinem grünen Cordanzug und staunt. Fritzi Haberlandt, trotzig-adrett, verkörpert seine treue Gefährtin; im wahren Leben ist es Aino Laberenz, die Kostümbildnerin. Sie hat die „Mea Culpa“-Massen bunt gekleidet, wie für eine Revue.
Ein umjubelter Abend in der Burg. Große Energieleistung, gewaltige Erleichterung. Aber man spürt auch das Dilemma. Wann hat sich ein Künstler derart nackt und angreifbar gemacht wie Schlingensief? Sein Werk, sein Leben, seine Krankheit zu einem unerhörten Ganzen so verschmolzen? Die Logik ist fürchterlich, ein voyeuristischer Abgrund: Es fällt schwer zuzugeben, dass die befreiende Farce weniger berührt als die drohende Tragödie. Wie kann sich ein Künstler von dem einmal so nahen finalen Punkt zurück- und weiterentwickeln, was kommt nach der alles verschlingenden Messe?
Schlingensief hat es in Duisburg schon angedeutet. Da lief das letzte Geleit, die pompös-funebre Prozession rückwärts aus der Kirche wieder heraus. In Wien stellt der dritte Akt („Ein Blick ins Jenseits“) die Träume und Albträume auf die Füße. Schlingensief mag ein irrer Visionär sein, aber mit dem afrikanischen Opernhaus ist es ihm wohl ernst. Mit dem Festspielort auf den „grünen Hügeln Afrikas“; in Bayreuth, auf dem Grünen Hügel, werde man noch vor Neid erblassen. In diesem letzten Akt begreift man auch, worum es sich hier handelt: Nach Wagner mag es klingen, aber gespielt wird das große barocke Welttheater.
Da kommt er, Schlingensief selbst, leise und weise. Steht auf der Brücke und kommentiert Filmaufnahmen aus dem brasilianischen Manaus, wo er den „Fliegenden Holländer“ inszeniert hat, am Amazonas. Christoph Fitzcarraldo Wagner. „Das war wichtig“, sagt er und ist gleich wieder verschwunden. Das war wichtig, aber es war doch noch nicht alles. Stofftiere, ein Hase, ein Lamm, werden in einer Voodoo-Massenszene traktiert, es ist die symbolische Eröffnung des afrikanischen Festspielhauses, das nun erst mal in Wien steht (Bühne von Janina Audick) und sich dreht und dreht. In der Schlusssequenz verdichtet sich das Chaos, Funken sprühen.
Lange hat sich das aufgebaut – diese Magie, dieser wirre Kosmos, der endlich schwingt. Es ist die Magie des Totenreichs, was da unwiderstehlich lockt und kreiselt. Afrika, das könnte die Erlösung sein, aber auch das Ende der Reise in das Herz der Finsternis. Fausts letzte Worte sind zu hören, verweile doch … Gibt er jetzt auf, bezahlt er seine Schuld mit seiner Seele, holt Schlingensief der Teufel?
Vom Bühnenhimmel schwebt die große Lunge aus der Berliner „Johanna“-Oper herab, der kranke Lebensbaum. Doch Meyerhoff alias Schlingensief (er hat ja Erfahrung als Mephisto) springt auf und zieht den Vorhang zu. Ruhe im Orkus! „Ich mag noch nicht“, fährt es aus ihm heraus, als er aus seiner Lethargie erwacht. „Ich mag noch nicht.“
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 22.03.2009)