Deutsches Theater in Pariser Vorstädten (Deutschlandradio)

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Das Festival „Le Standard Idéal“ in Bobigny bei Paris setzt 2006 einen deutschen Schwerpunkt

Von Bettina Kaps

In der Nordpariser Vorstadt Bobigny findet jährlich das internationale Theaterfestival „Le Standard Idéal“ statt. In diesem Jahr wurde daraus fast ein deutsches Festival: Sechs Schauspiele standen auf dem Programm. Abgesehen von einer Tschechow-Inszenierung durch die Truppe des ungarischen Dramaturgen Arpad Schilling waren alle Stücke auf Deutsch. Festivalleiter Patrick Sommier glaubt, dass sich das zeitgenössische deutsche Theater radikal von dem französischen unterscheidet.

Bobigny, fünf Kilometer nördlich von Paris. Umgeben von 20 Stockwerke hohen Wohntürmen liegt das Theater, „Maison de la Culture“ genannt, Kulturhaus. Seit Jahresbeginn sind hier fast ausschließlich deutsche Inszenierungen zu sehen.

Viele junge Menschen drängen sich an diesem Abend in die Eingangshalle, um „Kunst und Gemüse“ zu sehen. Es ist das erste Mal, dass der deutsche Erfolgsregisseur Christoph Schlingensief in Frankreich spielt. Redjef und seine Freunde haben einen weiten Weg auf sich genommen. Weil ihre Deutschlehrerin das Stück so gelobt hat, sind die Abiturienten aus dem Süden von Paris mehr als eine Stunde lang Zug und Metro gefahren, um ins Theater von Bobigny zu kommen.

Schüler: „Das Stück interessiert mich, außerdem kann es für mein Deutsch nur gut sein. Ich sehe heute zum ersten Mal ein Schauspiel aus Deutschland. Das ist ein Erlebnis. Wir wissen nichts über das Stück, lassen uns überraschen, und anschließend werden wir wohl im Unterricht darüber sprechen.“

Schlingensief in Paris

Andrea Fuchs ist ein Fan der Berliner Volksbühne und schafft es jedes Jahr, einige Schüler zu deren Gastspielen nach Bobigny zu bringen. Sie hat es nie bereut:

„Die Schüler finden es toll, weil es so anders ist als das französische Theater. Hier kennen sie vor allem die Comédie Française, was sehr klassisch ist, wo Schauspieler den Text perfekt heruntersagen und nicht so viel passiert auf der Bühne. Castorf und Schlingensief ist schon was anderes.“

Inszenierungen wie die der Volksbühne, meint die Lehrerin, könnten sogar Vorurteile ins Wanken bringen:

„…dass sie mal was anderes sehen. Das Bild von Deutschland ist oft so grau: Ordnung, Umweltschutz und Nazi-Zeit… Da ist Theater was Nettes, was Anderes.“

Thibaut Croizy spricht kein Deutsch, doch als Student der Theaterwissenschaft verfolgt er genau, was auf den Bühnen in und um Paris gespielt wird. In Bobigny hat er vor einigen Jahren Frank Castorf kennen gelernt, hier hat er zwei Aufführungen von Rene Pollesch gesehen, den er nicht mag: Dessen Wechsel von laut und leise, von hysterisch und entspannt, die leicht trashige Schnelligkeit, die auch „Prater Saga 5: Die Magie der Verzweiflung“ prägt, wertet der Student als Unterwerfung unter den Zeitgeist.

Croizy: „Ich mag deutsches Theater sehr, weil es viel verrückter ist und mehr wagt als alles, was ich aus Frankreich kenne. Französische Theatermacher sind zurückhaltend, sie wollen nicht schockieren. Franzosen haben zwar oft einen sehr heftigen Diskurs über die Gesellschaft, aber die Schauspieler auf der Bühne sind nicht radikal, und daher funktioniert das nicht. Deutsche Regisseure bringen ihre Schauspieler dazu, sehr viel weiter zu gehen, sie erlauben sich mehr.“

Der Direktor des Theaters von Bobigny, Patrick Sommier, teilt die Auffassung des Studenten. Auch wenn es eher ein Unfall war, dass sein Theater-Festival „Le Standard Idéal“ in diesem Jahr neben dem ungarischen Regisseur Arpad Schilling ausschließlich aus deutschen Inszenierungen bestand. Er hatte ursprünglich noch eine englische Truppe und den Spanier Calixto Bieito in sein Theater eingeladen, doch die beiden Stücke fielen aus.

Sommier setzt sich seit langem dafür ein, deutschsprachige Regisseure in Frankreich bekannt zu machen:

„Deutschland ist nach wie vor das einzige Land in Europa, wo man Theater ein bisschen ernst nimmt. Kein Vergleich zu Frankreich! Deshalb ist die Theaterproduktion in Deutschland für unser Publikum interessant. Die Zuschauer entdecken eine ganz andere und unglaublich faszinierende Art, Theater zu machen.“

Sommier und seine Vorgänger haben es geschafft, in Bobigny ein Publikum von Theaterbegeisterten anzuziehen, das neugierig über die Grenzen schaut. Dennoch war es für ihn ein gewisses Risiko, in diesem Jahr gleich drei Regisseure zu programmieren, die in Frankreich bislang unbekannt waren.

Das Stück „Kunst und Gemüse“, in dem Schlingensief unter anderem die tödliche Nervenkrankheit ALS thematisiert, ist zu Ende. Die Zuschauer strömen aus dem Saal, vier ältere Frauen diskutieren intensiv über das, was sie gerade gesehen haben.

Frau 1: „Ich bin wie verstört… Wir haben nah an der Bühne gesessen und an der bettlägerigen Frau. Das war brutal. Unsere Theatermacher gehen in der Gewalt nicht so weit. Der Weg in die Gaskammer, die Vehemenz gegen Wagner und Bayreuth… Ich glaube nicht, dass wir so schonungslos mit der Geschichte umgehen. Es gab Momente, da bekam ich keine Luft mehr und habe mich gefragt: Wo führt das hin? Gibt es für die Menschheit keine Rettung mehr?“

Frau 2: „Ich arbeite manchmal in Deutschland. Wir haben eng verwandte Kulturen und dennoch so unterschiedliche Ausdrucksweisen. Das ist ein anderes Universum, nicht zu vergleichen mit dem, was unsere jungen Regisseure machen.“

Unterdessen ist die Programmgestaltung für das Festival „Standard Ideal 2007“ schon weit fortgeschritten; die Deutschen werden wieder stark vertreten sein, verspricht der Direktor. Er weiß, dass er auf sein Publikum zählen kann – vorausgesetzt, die Vorstädte bleiben ruhig. Denn die Krawalle vom November haben seinem Theater schwer geschadet. „Während der Ausschreitungen hatten wir keine Zuschauer. Selbst Leute, die bezahlt hatten, sind fern geblieben. Dabei ist in Bobigny selbst fast nichts passiert. Wir leben jetzt mit einem Damokles-Schwert, denn wenn erneut Unruhen ausbrächen, wäre das sehr schlimm für uns. Ich befürchte, dass es wieder losgehen wird.“

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