„ALARMZUSTAND“ ZWISCHEN WIRKLICHKEIT UND SPIEL (EPD)

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Erste Gesamtschau zu Christoph Schlingensiefs künstlerischem Schaffen in Berlin

Berlin (epd). Das uferlose Schaffen des 2010 verstorbenen Kunstrebellen Christoph Schlingensief lässt sich mit nur einem Wort zusammenfassen: Ausnahmezustand. In seinem bekanntesten Film „Das deutsche Kettensägenmassaker“ (1990) meuchelte eine westdeutsche Metzgerfamilie nach der Wiedervereinigung im Blutrausch DDR-Bürger. Bei der documenta X in Kassel wurde er 1997 für die Aktion „Tötet Helmut Kohl“ kurzzeitig inhaftiert. 1998 gründete er die Partei Chance 2000 und rief am Urlaubsort des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU) zum „Bad im Wolfgangsee“ auf. Die KW Institute for Contemporary Art in Berlin widmen Schlingensief nun eine erste große Gesamtschau, die ab Sonntag bis 19. Januar zu sehen ist und im März weiter ins MoMA PS1 nach New York zieht.

Neben Schlingensief gebe es kaum einen Künstler, der so radikal Kunst und Politik miteinander verwoben habe, sagte Kuratorin Susanne Pfeffer am Freitag. Schlingensief habe sein Publikum in einen „Alarmzustand“ zwischen Wirklichkeit und Spiel befördert, betonte Kuratorin Anna-Catharina Gebbers. Immer wieder rieb sich Schlingensief fast obsessiv an gesellschaftlichen und politischen Missständen.

Die Ausstellung „Christoph Schlingensief“ lädt ein, ein paar Stunden im Kopf des radikalen Provokateurs zu verbringen, sich an Aktionen zu erinnern, mit denen dieser die Kunstwelt auf den Kopf stellte. Und so sitzen sie auch in den Berliner Ausstellungsräumen, die Teilnehmer seiner „Pfahlsitzwettbewerbe“ und seine „Church Of Fear“ steht nun auf dem Hof der KW Institute for Contemporary Art. Auch der „Animatograph“, eine große und begehbare Drehbühnenkonstruktion aus Holz- und Leinwänden, Film- und Theaterrequisiten, erwartet die Besucher – ein Spektakel von Exponat.

Seine Witwe Aino Laberenz, Beraterin der Kuratoren, sagte, sie habe sich sowohl eine Abbildung des breiten Spektrums des Künstlers als auch ein Eintauchen in dessen Welt gewünscht. Die Berliner Schau stellt folglich die komplexen Bildwelten Schlingensiefs in den Vordergrund.

Viele seiner Themen haben dabei heute nicht an Aktualität und Brisanz verloren- so etwa der Container der Projektwoche „Bitte liebt Österreich“ (2000). In Wiens Haupteinkaufsstraße ließ Schlingensief damals ein Containerdorf errichten, in dem frei nach dem TV-Format „Big Brother“ und in Anspielung auf die Politik der rechtspopulistischen FPÖ von Jörg Haider zwölf Asylbewerber via Webcams beobachtet und zur Abschiebung ausgewählt werden konnten.

Erkennbar wird anhand der vielen Monitore mit Film- und Interviewsequenzen, anhand von Beichtstuhl und roten Grabkerzen auch, was Kurator Klaus Biesenbach Schlingensiefs „zwei Köfferchen“ aus Oberhausen nannte. Aus seiner Heimat und seinem Elternhaus habe Schlingensief zwei Sachen mitgebracht und nie wieder aus der Hand gelegt: seine Messdiener-Erfahrung sowie eine Kamera.

Es war auch Schlingensiefs Schicksal, dass er sämtliche Bühnen bespielte: Film, Theater, Oper, Performances und Installationen. Die meisten Jahre seines Lebens musste der Kompromisslose gegen den etablierten Kunstbetrieb kämpfen, der ihn von einem Terrain zum nächsten jagte. „Er suchte sich immer neue Plattformen“, sagte Laberenz. „Es ging nicht an ihm vorbei, er tauchte immer wieder auf.“ In einem Ausstellungsraum hängt ein Banner an der Wand: „Scheitern als Chance“. Kurator Biesenbach erinnerte daran, dass Schlingensief erst in den letzten fünf Jahren seines Lebens „konsensfähig“ geworden sei.

Diese letzten Jahre waren auch geprägt durch Schlingensiefs Krebserkrankung. 2004 debütierte er mit seiner Inszenierung des „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen. Schon damals prophezeite er in einem Interview den Krebs, um den sich seine Arbeit nach der Diagnose kreisen sollte. 2008 zeigte er bei der Ruhrtriennale „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, 2009 feierte im Wiener Burgtheater „Mea Culpa – eine ReadyMadeOper“ Premiere. Mit immer neuen Projekten schien Schlingensief seiner schweren Krankheit Paroli bieten zu wollen. Bei der Kunstbiennale in Venedig wurde er ein Jahr nach seinem Tod posthum mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Sein letztes großes Projekt war das „Operndorf Afrika“ in Burkina Faso, das nun von Laberenz weiter vorangetrieben wird.

Von Nadine Emmerich (epd) / Aus: epd ost nad phi, 2.12.2013