Doppelbelichtung als Versuch, Unterschwelliges sichtbar zu machen: Das war für den 2010 verstorbenen Künstler Christoph Schlingensief eine Weltanschauung. Sprunghaft wie seine Arbeiten sind auch die Erinnerungen – aus dieser Unschärfe gewinnt seine Autobiografie ihren Reiz.
Eines der Opfer des digitalen Zeitalters ist die Doppelbelichtung. Die Tante, die über ihrer Torte schwebt, das Auto zwischen Schwimmreifen im Adriawasser, Papa und Mama als Doppelgeist, diese bizarren Produkte des Zufalls hat der Perfektionsdrang der Fototechnik als Erscheinungen aussortiert. Bei Christoph Schlingensief allerdings hat dieser schöne Fehler der mechanischen Camera überlebt: als Schlüsselerlebnis seiner Kindheit wurde daraus nicht nur eine Werkidee, sondern eine Weltanschauung.
Es war das „Revolutionsjahr“ 1968, als die dreiköpfige Kleinfamilie Schlingensief Papas Urlaubsfilme ansehen wollte und plötzlich fremde Menschen über die Bäuche von Mutter und Kind am Strand marschierten. Der damals Achtjährige, so erinnerte sich Schlingensief bei verschiedenen Anlässen, reagierte mit Begeisterung auf diese „falschen“, zweifach belichteten Bilder. Dass dieses Kapitel in der Autobiografie Christoph Schlingensiefs, „Ich weiß, ich war’s“, als „Die Urszene“ figuriert, erklärt mehr, als es solche Kindheitsanekdoten für gewöhnlich tun.
Denn in diesem Moment im Wohnzimmer wirkten drei Dinge zusammen, die das spätere ausufernde Schaffen von Christoph Schlingensief geprägt haben: der Zufall (als Einbruch des Lebens in die Inszenierung), die Verstörung (als Chance, das Denken zu ändern) und das Prinzip der Mehrfachbelichtung (als Ästhetik des Zweifelns). Schlingensiefs lebenslanger Arbeitsstil der spontanen, assoziativen Mutprobe wurzelt in diesen Komponenten, seine provozierenden Methoden, um unterschwellige Themen der Gesellschaft sichtbar zu machen, finden ihren Urknall in diesem Erlebnis.
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Quelle: SZ vom 19.10.2012, von Till Briegleb