»ICH REGEL DAS VON OBEN« (ZEIT)

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Die afrikanische Mittagshitze hat die Gesichter der deutschen Touristen bereits rot gefärbt, als Aino Laberenz vor einer Baugrube in der Savanne stoppt und versucht, Worte für das schwer Vorstellbare zu finden. Ein leichter Wind geht durch die knorrigen Karité-Bäume, am Horizont heben sich zwei Hügel wie Brüste in den Himmel, und ringsherum starren mannshohe Granitfelsen auf die Besucher, als hätte der Zeremonienmeister selbst sie dort abgeworfen.

VON ANITA BLASBERG

Kein Baum wurde versetzt, kein Fels verrückt, so hat er es verfügt.

Ein 60-köpfiger Tross aus Urlaubern, Einheimischen und Entwicklungshelfern schaut erwartungsvoll auf Aino Laberenz, die Witwe von Christoph Schlingensief. Seit einer halben Stunde stapfen sie hinter ihr her über diese Baubrache, etwa 30Kilometer östlich von Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso. Ein Reisebus des Goethe-Instituts hat sie hier im Niemandsland zwischen zwei Dörfern ausgesetzt, damit sie sich ein Bild machen können: von diesem ganzen Grenzen sprengenden Projekt, von diesem afrikanischen Stück Land, auf dem Schlingensiefs großer Traum Wirklichkeit werden soll.

Ein Mann in Burkina Faso blickt auf die Baustelle von Christoph Schlingensiefs Opernhaus, August 2010

Aino Laberenz ist hier, um ihn zu erfüllen, aber noch ist kaum etwas zu sehen. Sie deutet auf ein paar Grundmauern im roten Sand und erklärt, dass dies die Grundschule werden solle. Später komme die Krankenstation hinzu, erst am Ende, dort, wo das Gelände sich öffne, das Festspielhaus. Die Besucher nicken höflich. Operndorf hat er es genannt. Aber das einzige Gebäude, das bereits ein Dach hat, ist das »Präsidentenklo«, ein kleines Toilettenhäuschen, das sie eilends hinmauerten, als Horst Köhler, der Schirmherr, seinen Besuch angekündigt hatte. Laberenz lächelt in die Stille. Es gibt Leichteres, als die Übersetzerin einer Schlingensiefschen Vision zu sein. In den nächsten Tagen wird sie Minister in Ouagadougou treffen, sie wird Kontakte zu einheimischen Lehrern und Künstlern knüpfen und dafür sorgen, dass sein Letzter Wille Gestalt annimmt.

Zwei Jahre ist es her, dass Schlingensief zum ersten Mal durch Burkina Faso reiste, bei 40 Grad im Schatten und gegen den Rat seiner Ärzte. Der Krebs hatte ihn abmagern lassen. Er wusste, dass er vielleicht noch zwei Jahre hatte. Spielzeitverlängerung, sagte er jedes Mal, wenn er aus der Röhre kam. Er wolle nicht wieder in diesen blinden Trott verfallen, noch schneller, noch mehr, sondern »ein Leben, das einen Sinn ergibt und sich den Menschen nähert«. In Afrika genoss er die Ferne des Kulturbetriebs. Dieses Operndorf sollte etwas Bleibendes sein, ein lebender Organismus – nichts, wofür man Applaus kassiert und was man dann ins Museum überstellt.

Ob es denn schon einen Eröffnungstermin gebe, fragt jetzt einer der Besucher an der Baugrube. Langsam wie ein traditionelles Dorf solle das Ganze wachsen, erklärt Aino Laberenz. Im Oktober solle der Schulunterricht beginnen, ein Markt hinzukommen und schließlich ein Fußballfeld, aber es gebe keinen Fünfjahresplan.

Ob die Schule tatsächlich kostenlos sei, will eine Afrikanerin wissen, und als Laberenz sagt, dass es auch ein freies Mittagessen gebe, rückt einer der Deutschen seinen Schlapphut zurecht. »Aber noch net mal Deutschkurse anbieten«, sagt er. Wenig später versammelt sich die Gruppe zu einer Diskussionsrunde unter einem Bambusdach. Wo der Strom herkomme, fragen ein paar Einheimische, und wer diese Schule besuchen dürfe. Es ist seltsam: Während die Afrikaner praktische Fragen stellen, formulieren die Entwicklungshelfer vor allem Einwände. Warum denn ausgerechnet hier und nicht in der Hauptstadt, fragen sie. Ein Dorf, das sich selbst entwickelt – wie solle denn das gehen, fragt ein Tourist.

Es wäre wohl kein Schlingensief-Projekt, würde es nicht irritieren. Es gibt Leute, die Karten bestellen wollten für den ersten Wagner. Und es gibt Leute, die aufschreien: Ein Opernhaus in einem Land voller Analphabeten! Vielleicht haben nur wenige verstanden, was Schlingensief da eigentlich suchte, und doch hat er sie alle mit seiner Begeisterung in den Bann gezogen: Die burkinische Regierung und das Auswärtige Amt fördern das Projekt, das Goethe-Institut und die Kulturstiftung des Bundes. Mehr als tausend Anteilscheine für den Bau hat Schlingensief noch verkauft. Roland Emmerich, Henning Mankell und Herbert Grönemeyer spendeten jeweils über 100.000 Euro. Ein Arbeitsloser weist monatlich sechs Euro an.

Als der Bus am Horizont verschwindet und eine schwere Staubwolke hinterlässt, ist es wieder still in Laongo. Die Dorfältesten beten im Schatten der Schulmauer. Aino Laberenz sitzt allein mit angezogenen Beinen auf dem großen Felshügel, Schlingensiefs Lieblingsplatz. Er genoss diesen Blick, sagt sie, diese Ruhe.

Unzählige Orte hatten sie in den zwei Jahren zuvor besichtigt, um einen Platz für sein Operndorf zu finden. In Kamerun waren sie, in Mosambik und Namibia. Aber als Schlingensief im strömenden Regen diese Anhöhe bei Laongo erklommen hatte und sein Blick über das weite Land schweifte, da fiel er allen um den Hals. »Das ist es!«

Kurz darauf trafen sich die Ältesten der umliegenden Dörfer, um die Geister ihrer Ahnen zu befragen. In der Dämmerung schnitten sie ein Huhn der Länge nach auf, warfen es in die Luft, und als es vom Himmel fiel, landete es auf dem Rücken, nicht auf dem Bauch. Die Ahnen, bedeutete das, hießen den Weißen willkommen.

Schlingensief war schon an ein Atemgerät angeschlossen, als er seine Ärzte um sich versammelte. Es werde nun wirklich ernst, hatten sie ihm gesagt, und da geriet er außer sich: Die Medizin solle das verdammt noch mal hinbekommen, im Oktober sei Einschulung! Eine halbe Stunde redete er sich in Rage, über das Leben, die Kunst und Beuys. Die Ärzte waren erschüttert von dieser Energie, wenige Tage später fiel er ins Koma.

»Plötzlich war er weg«, sagt Laberenz. »Dabei war er bis zum Schluss so lebendig.«

Sie spricht gefasst und klar, eine schmale Frau von 30 Jahren. Ihre Finger spielen an seinem Ring, den sie um den Hals trägt. »Hier in Afrika kann ich mich auf ihn konzentrieren«, sagt sie. In Deutschland hatte sie ja kaum Zeit zum Trauern. Da musste sie seinen Nachlass verwalten, da sind all die Entscheidungen, die sie jetzt treffen muss: Der Verlag möchte, dass sie seine Memoiren abnimmt. Die Biennale will, dass sie an seiner Stelle den Deutschen Pavillon in Venedig gestaltet, und irgendwer muss die Proben zu Via IntolleranzaII leiten, seinem letzten Stück, das bei den Berliner Theatertagen gezeigt werden soll. Und einmal im Monat fliegt sie jetzt nach Burkina Faso.

Sie habe gründlich überlegt, ob sie seine Arbeit in Afrika weiterführen solle, ob sie diese Verantwortung tragen könne, sagt Laberenz. Es war ja ein Versuch mit offenem Ausgang. Anweisungen hat er nicht hinterlassen. Sie sagt: »Christoph wollte kein Denkmal. Er wollte eine soziale Plastik, gefüllt mit den Ideen der Menschen, die an ihr arbeiten und in ihr leben.«

Im Oktober, sechs Wochen nach seinem Tod, entschloss sie sich, Geschäftsführerin der gemeinnützigen Festspielhaus GmbH zu werden. Der Bau der Grundschule und ihr Betrieb sind für ein Jahr gesichert. Aber die Spenden fließen seit Schlingensiefs Tod spärlicher. Zum Glück sei sie nicht allein, sagt Laberenz. Schon als Schlingensief noch lebte, bildete sich ein Kreis aus engen Freunden, der ihn beriet: Antje Vollmer, die ehemalige stellvertretende Bundestagspräsidentin, der Anwalt Peter Raue, der Theaterleiter Matthias Lilienthal, die Intendantin Amelie Deuflhard und die Künstleragentin Claudia Kaloff. Seit seinem Tod haben sie die Aufgaben auf ihren Schultern verteilt. Sie sagen: »Wir wollen versuchen, Christoph nicht zu ersetzen, sondern ihn zu bewahren.«

Auch jetzt wird Laberenz von Peter Raue, dem Anwalt, und Francis Kere begleitet, dem Architekten, der aus Burkina Faso stammt. In den nächsten Tagen wollen sie burkinische Künstler treffen, um sie für ihre Idee zu gewinnen, vor allem aber suchen sie einen Einheimischen, der das Projekt vor Ort leiten könnte. Einen Afrikaner, keinen Europäer, sagt Laberenz. »Von Afrika lernen«, das war Schlingensiefs Credo.

Burkina Faso, das fünftärmste Land der Welt, hat eine der lebendigsten Kulturszenen Afrikas. Gleich neben dem Gelände des Operndorfs fertigt ein bekannter Bildhauer Skulpturen aus Granitfelsen, Ouagadougou hat mehr Theater und Kinosäle als die meisten deutschen Großstädte, und in diesen Tagen findet das Fespaco statt, das größte panafrikanische Filmfestival. Er wolle kein Bayreuth, keinen Rotwein-Scheiß und auch keine Reißbrett-Ruine nach dem Motto »Die Weltmeisterschaft ist zu Ende, und dann hauen wir alle wieder ab«, hatte Schlingensief immer wieder gesagt. Keine gönnerhafte Geste für Afrika, sondern eine gegenseitige Befruchtung.

»Wir wollen keine Schlingensief-Epigonen sein«, sagt Peter Raue, »aber natürlich hat dieses Projekt eine bestimmte Policy.« Dazu gehöre, dass man lokale Baufirmen beschäftige, die nur im Land vorkommende Materialien verwenden.

Raue war bislang noch nie in Burkina Faso, er ist gerade 70 geworden, und normalerweise trägt er eine Fliege. Jetzt steht er, mit einem Strohhut und einer leuchtend roten Jeans bekleidet, auf der Ladefläche eines Pick-ups, seine weißen Haare wehen im Fahrtwind. Vor deutschen Gerichten vertritt er alles, was in der Kulturszene Rang und Namen hat, von Anselm Kiefer bis Luc Bondy, und weil er nebenbei noch Kunstmäzen ist und die MoMA-Ausstellung 2004 nach Berlin holte, nennen ihn einige den heimlichen Kultursenator der Hauptstadt. Nun fährt er durch die Savanne, mit einer Frau, die seine Enkelin sein könnte, um die letzten Vertragsdetails mit den afrikanischen Baufirmen zu klären.

Raue ist auch gekommen, weil bislang keine der beiden Baufirmen die verabredete Bankbürgschaft vorgelegt hatte, eine Garantie, die die deutschen Spender etwa gegen Veruntreuung absichert. Ohne diese Garantie wollten die Deutschen noch kein Geld überweisen. Ohne das Geld wiederum haben die Firmen ihre Arbeiter noch nicht bezahlt. Es sei schwierig, eine afrikanische Bank zu finden, die so etwas mache, sagen die Firmen. Es sei unumgänglich, sich abzusichern, sagen die Deutschen.

Raue ist ein ungeduldiger Mensch, der gewohnt ist, mit wenigen Worten schnelle Ergebnisse zu erzielen. Aber jetzt sind sie hier auf dieser Baustelle in Verzug. Weil hier alles langsamer geht, weil man alles persönlich diskutieren muss, weil kein Fax reicht und keine E-Mail. Raue sagt: »Wir hantieren nun mal mit öffentlichem Geld. Aber das ist hier schwer zu vermitteln.«

An diesem Vormittag erst waren sie beim Kulturminister von Burkina Faso, und nachdem dieser Schlingensief als seinen besten Freund bezeichnet hatte, drang er auf Geduld. Die Deutschen hatten ihn gefragt, ob er behilflich sein könne, einen Manager für das Projekt zu finden, mögliche Lehrer, aber Filippe Savadogo, der Minister, hatte nur mit einem afrikanischen Sprichwort geantwortet: Erst baue man ein Haus, dann richte man es ein.

Es ist vertrackt: In Deutschland mahnt man sie zur Eile, in Burkina Faso zur Geduld. Vor ihrer Abreise musste Aino Laberenz den Abgeordneten im Bundestag erklären, warum der Bau noch nicht fertig ist, in Burkina Faso lobt man seine Fortschritte angesichts des tragischen Todes. In Deutschland drängt das Auswärtige Amt schon auf ein genaues Konzept zur Beschulung, und in Burkina Faso drücken sie auf die Bremse. Eins nach dem anderen, sagen sie. Druck empfinden sie als Arroganz.

»Meine Landsleute sind es gewohnt, dass die Dinge ein anderes Tempo haben«, sagt Francis Kere, der Architekt. Aber jetzt, wo die Bankbürgschaften endlich da seien, werde man bis zur Regenzeit mit der Schule fertig sein.

Vor Schlingensiefs Tod legten sie ein Vorgehen in Etappen fest: Erst wenn die Grundbedürfnisse gedeckt seien, wenn die Schule in Betrieb und die Krankenstation angenommen sei, folge das Festspielhaus. Anbauflächen für die Selbstversorgung könnten hinzukommen, ein selbst betriebenes Restaurant, Werkstätten und Archive. Das Dorf solle sich nehmen, was es brauche, sagt Kere, nach und nach.

Kere ist Mitte 40, aber wenn er spricht, ist sein ganzer Körper in Bewegung. Mit einem Stipendium der Carl-Duisberg-Gesellschaft schaffte er es als Oberschüler nach Deutschland. In München aß er das erste Mal von einem eigenen Teller, und während er nachts für sein Abitur lernte, schuftete er tagsüber auf dem Bau. Noch während seines Architekturstudiums baute er seinem Heimatdorf Gando eine Grundschule, für die ihm der Aga Khan den höchstdotierten Architekturpreis der Welt überreichte. Heute steht er als einziger Schwarzafrikaner in dem globalen Verzeichnis der hundert wichtigsten Architekten.

Kere sei sein größter Glücksfall, hatte Schlingensief immer gesagt: ein Einheimischer, der seine eigene Vision einspeist, ein Afrikaner, der auch deutsch denkt, ein Mittler zwischen den Kulturen.

Immer wieder ist Kere als Dolmetscher gefragt. Warum misstrauen die Deutschen uns, fragten die Bauarbeiter ihn, den Landsmann, als ihr Lohn auf sich warten ließ. Warum zählen sie uns, wollten sie wissen, als eine Deutsche in den umliegenden Dörfern die Zahl möglicher Schüler ermittelte. »Bei uns zählt man Menschen nicht«, erklärt Kere. Zählen beleidigt den Einzelnen. »Der mit den verrückten Haaren«, nannten die Bauarbeiter Schlingensief. Und als er sich einmal das Fahrrad eines Arbeiters schnappte, um damit über das Gelände zu kurven, raunten sie: Was will dieser Mann?

Es ist schon dunkel in Ouagadougou, als Aino Laberenz im Garten des Goethe-Instituts vor einer großen Leinwand Platz nimmt. Die Stuhlreihen sind gefüllt mit neugierigen Studenten. Auf dem Podium sitzen die Darsteller von Schlingensiefs letztem Stück, es sind Menschen aus Burkina Faso. Da sind Nicolas, der Trompeter, und Komi, der Kleinwüchsige. Le Chercheur, der alte Geschichtenerzähler, und Isabelle, die füllige Büroangestellte, die nur zufällig in Schlingensiefs Casting geriet.

Sie erheben sich zu einer Schweigeminute, dann zeigt ein Film sie bei den Proben in Europa. »95 Prozent aller Bilder von Afrika sind von Weißnasen gemacht«, ruft Schlingensief auf der Leinwand, »das wollen wir ändern! Steigen Sie in das Risikoprojekt Operndorf ein, und halten Sie die Schnauze! Stellen Sie keine Bedingungen!«

Die Darsteller wischen sich die Augen. Komi, der Kleinwüchsige, erzählt, wie Schlingensief ihm helfen wollte, eine Frau zu finden. Isabelle, die Büroangestellte, sagt: Ich war keine Tänzerin, aber Christoph sagte: Komm, tanz! Kein Wort Französisch habe Schlingensief gesprochen, sagt Nicolas, der Trompeter, und doch habe er sie verstanden.

Was Schlingensiefs Thema gewesen sei, fragt einer im Publikum. »Das Leben selbst war sein Thema«, antwortet Isabelle. »Christoph hat uns eine Idee gebracht, nun müssen wir sie verwirklichen.« Christoph sei nicht tot, er sei im Paradies, sagt Nicolas, der Trompeter. Es liegt ein feierlicher Ernst in den Gesichtern dieser Menschen, das Glühen großen Stolzes. Zwei Tage vor seinem Tod hat Schlingensief ihnen noch eine E-Mail geschrieben. Keine Sorge, schrieb er, das mit der Eröffnung werde ich dann von oben regeln.

DIE ZEIT, 20.4.2011 Nr. 17
Foto (oben): © Issouf Sanogo/AFP