Der Regisseur und Gesamtkunstwerk-Realisator Christoph Schlingensief im Gespräch
Den einen gilt Christoph Schlingensief als Genie, den andern als Provokateur oder Schlitzohr. Zuletzt erregte er Aufsehen mit seinem «Tagebuch einer Krebserkrankung». Thomas David sprach mit ihm.
NZZ: Seit Januar dieses Jahres entsteht in Burkina Faso das von Ihnen initiierte Operndorf. Aber schon seit rund 15 Jahren zieht es Sie nach Afrika. Warum?
Schlingensief: Das hat mit «United Trash» zu tun, meinem Film von 1996. Der Vater meiner damaligen Freundin war Missionspriester in Südafrika, bis er rausgeschmissen wurde, und irgendwann sagte meine Freundin: «Da musst du hin.» Wir sind also nach Simbabwe gefahren; ich habe den Film gedreht. Wir haben dabei ein ziemlich eindrucksvolles Durcheinander erlebt, das auch viel Angst erzeugt hat, weil wir mit unserer Geschichte in die Anfänge von Mugabes Landreform hineingerast sind. Alle Weissen wurden zu Rassisten erklärt. Man hat uns sogar festgenommen und ins Gefängnis gesteckt.
NZZ: Zwischen «United Trash» und «Via Intolleranza II», der ersten aus Ihrer Operndorf-Utopie hervorgegangenen Produktion, liegen Welten.
Schlingensief: Als ich in Afrika den Ort für das Festspielhaus gesucht habe, geschah das auch aus einer existenziellen Frage heraus. Eigentlich haben mir alle Ärzte davon abgeraten – Fliegen gehe nicht, Atmen gehe nicht, die Hitze schon gar nicht. Es spielte also auch mein eigener Antrieb, mir das zu beweisen, eine Rolle: der aus meiner Krebserkrankung heraus geborene Gedanke, das Operndorf genau jetzt zu machen und nicht erst in zehn Jahren. Als die Idee einmal ausgesprochen war, kam sie einfach ins Laufen – das ist immer so bei mir, dann gibt es kein Zurück. Ich habe allerdings schnell gemerkt, dass ich gar keine Lust habe, mich die ganze Zeit mit Afrika zu verbrüdern, dass ich keine Ambitionen habe, Afrikaner zu werden, da nicht wohnen will, und Trommelkurse liegen mir auch nicht. In «Via Intolleranza II» gehe ich eigentlich hin und sage: «Entschuldigung, das hat überhaupt nicht funktioniert», aber in dem Moment, in dem meine Kritiker behaupten, das hätten sie von Anfang an gewusst, «das klappt eben nicht mit den Afros», sage ich: «Ich mache das Operndorf aber trotzdem.»
NZZ: Wird die in «Via Intolleranza II» anklingende Frage, weshalb die westlichen Industrieländer Afrika helfen wollen, durch die Politik nicht ohnehin ad absurdum geführt?
Schlingensief: Das ist der Wahnsinn. Aber ich glaube, es gibt so ein Urgefühl, aus dem heraus sich viele von uns Afrika eben doch verbunden fühlen. Vielleicht, weil Afrika die Wiege der Menschheit ist. Wir sehnen uns nach einer Ursprünglichkeit, und es ist in diesem Zusammenhang auch interessant, dass ich selber in Afrika immer die grössten Angsterlebnisse hatte. Hier bei uns haben wir uns ja in ein Nest begeben, in dem wir eine Lebensversicherung, eine Laptop- und eine Hundeversicherung brauchen, um angstfrei Brötchen kaufen zu können, und aufs Spiel setzen wir das allenfalls für drei Wochen mit einer Rundum-sorglos-Versicherung für den Urlaub. Aber die Menschen in unseren Industrieländern leiden natürlich höllisch darunter, dass sie eigentlich schon gar nicht mehr da sind und das Leben vor lauter Versicherung kaum noch spüren, und wenn ein derart beschädigter Mensch dann nach Afrika reist, um dort zu erklären, wie es läuft, nimmt das groteske Ausmasse an.
NZZ: In «Via Intolleranza II» treten Sie selbst auf.
Schlingensief: Ich gehe in dem Moment auf die Bühne, als ein Afrikaner das selbstgebaute Hüttchen vorstellt, an dem er einen Monat lang gearbeitet hat, wozu ich als Europäer ihn dann beglückwünsche. Wir wollen sehen, wie das Äffchen durch den Reifen springt. Im Grunde ist das noch wie bei den Kolonialisten, die die Afrikaner erst in Bambusröckchen ausgestellt haben und fünf Jahre später in Hosen, damit man zeigen konnte, dass der Kolonialismus etwas gebracht hat – «Hosenneger» nannte man das.
NZZ: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der von Ihnen beschriebenen politischen Intervention und jener Intervention, die das Prinzip Ihres Theaters ist, seitdem Sie 1993 während einer «Hundert Jahre CDU»-Vorstellung auf die Bühne der Berliner Volksbühne gestürmt sind und die Routine störten?
Schlingensief: Diese Reaktion hatte zum Teil damit zu tun, dass Alfred Edel, der bei mir mitgespielt hatte, gestorben war und ich mich weigerte, ihn durch einen anderen Schauspieler zu ersetzen. Edel war ja ein Mensch, keine Rolle, und einen Menschen kann man auch im Theater nicht ersetzen. Der andere Grund für meine Intervention war aber tatsächlich, dass ich es in dem Augenblick nicht mehr aushalten konnte, wie wir uns da alle verhielten. Diese Art der Intervention kann zu Wahrhaftigkeit führen – ein dickes Wort: Aber es ist mir wichtig, dass auch der Schauspieler weiss, es könnte sich plötzlich alles gegen ihn wenden, er könnte jeden Augenblick seinen Triumph verlieren. Dieses Risiko muss im Theater schon drin sein. Ich mag es nicht mehr, dass viele Schauspieler in Deutschland immer nur wissen wollen, was sie gleich tun sollen, und auch schon die Applausquote mit einfordern.
NZZ: Ist das Theater für Sie ein Ort der Ruhestörung?
Schlingensief: Im besten Fall ist es für mich vor allem ein Forschungslabor, in dem die unterschiedlichsten Gedanken aufeinanderprallen und explodieren dürfen. Dabei kann Komisches passieren, Metaphysisches – oder die Sachen gehen plötzlich ganz konform auf. Das Schlimmste ist das Potpourri dieser Cocktailmischanlagen, die die Intendantenhäuser geworden sind. Heute wird mit dem Publikum nicht mehr diskutiert, es gibt keine Seminare. Ich bin in dieser Hinsicht ganz konservativ: Die beste Zeit war in den Neunzigern an der Volksbühne, als Castorf uns regelrecht gezwungen hat, am nächsten Morgen schon wieder dazusitzen, um mit einem Kritiker oder wem auch immer zu streiten. Wir hatten schlechte Laune, das Stück war nicht gut angekommen, aber wir mussten erscheinen. Ich finde es total wichtig, dass wieder richtige Köpfe an die Theater kommen. Heute haben wir es meist mit Leuten zu tun, die zwar irgendwie viel draufhaben und belesen sind, denen aber der Mut zur Radikalität fehlt, der sie sagen liesse: «Dieses Thema setze ich jetzt da rein, und ich vertrete es bis zum Anschlag.» Die meisten Intendanten heute sind so kleine, zarte Pflänzchen, die ihr Programm mixen – ein Stück für die Oma, ein anderes für den Opa, für die Jugend ein wenig Hip-Hop oder Punkrock und für die Kinder Trallala. Ich finde aber, dass man das Theater auf diese Weise einfach nicht ernst nimmt, auch wenn man damit Zuschauerzahlen erzielt. Aber in seiner Grundexistenz macht man das Theater auf diese Weise eigentlich platt.
NZZ: Wie kann man dem von Ihnen beschriebenen Konsens-Theater Bedeutung geben?
Schlingensief: In dieser Hinsicht kann ich nur sagen, dass die Volksbühnenzeit 1993 für mich ein Glücksfall war. Ich bekam damals einen Anruf in Mühlheim an der Ruhr. Ich hatte ein paar Filmchen gedreht, hing sonst aber nur rum. Dann kam die Frage, ob ich nicht an die Volksbühne kommen wolle. Ich kannte das Haus nicht, hatte keine Ahnung vom Theater und war überhaupt kein grosser Theaterfreund, und als ich dann da reinkam und sah, wie Herbert Fritsch in «Clockwork Orange» an einem Brett drei Meter hochgezogen wurde, fand ich das irgendwie unmöglich und wollte sofort wieder abhauen. Der Dramaturg Matthias Lilienthal hat mich aber im Treppenhaus abgefischt, und ich sagte zu. Die Ruhestörung, die man an so einem Haus erlebte, kann sich nicht täglich wiederholen, weil man ja irgendwann durchimmunisiert ist. Aber das Tolle war für mich, dass Leute mit an Bord waren, die ganz neue Ansätze brachten – auch in musikalischer Hinsicht. Castorf kam immer mit seinem Rockzeug an, damit wollte ich nichts zu tun haben, aber Christoph Gurk, der dann Chefredakteur von «Spex» wurde, oder die Vorträge von Diedrich Diederichsen – das war absolut super. Die heutigen Ruhestörungen im Theater bewegen sich ja eher im Bereich des Skandals, das ist langweilig.
NZZ: Die Schnelligkeit von «Via Intolleranza II», die zahlreichen Akteure und die vielen Bild- und Tonebenen, die Sie in Ihrer Inszenierung zusammenführen, überfordern den Zuschauer, scheinen ihn aber gerade auch zu aktivieren. Wie schaffen Sie es, Energien auf das Publikum zu übertragen?
Schlingensief: Sechs Wochen vorher war ich noch richtig wackelig und musste wieder eine Chemotherapie machen, dann brachte die Flugasche dieses isländischen Vulkans die Probenzeit durcheinander, so dass wir am Ende nur vierzehn Tage Zeit hatten. Das hat natürlich bei allen Beteiligten einen enormen Druck erzeugt, und als noch der Bühnenbildner und der Dramaturg ausfielen, standen wir eigentlich kurz vor dem Aus. Wir hatten aber das Gefühl, dass wir vor den Leuten aus Burkina Faso, die trotz allem wie auf Knopfdruck anwesend waren, nicht unsere deutsche Larmoyanz ausfahren konnten, zumal sie in ihrem Leben alle schon Katastrophen erlebt haben, die uns wahrscheinlich umgebracht hätten. Wenn bei denen die Häuser wegschwimmen, bauen sie einfach neue, während bei einem Hochwasser in Brandenburg gleich alle Politiker in Gummistiefeln unterwegs sind und man den Eindruck hat, ganz Deutschland gehe gerade unter. Wir haben uns also angestrengt, nicht die Schlappis zu geben, und diese Haltung war wahrscheinlich der Kraftpunkt der Inszenierung. Wir waren in gewisser Weise ebenfalls überfordert, und diese Form der Energie hat sich vielleicht auf die Zuschauer übertragen – nicht als Erfüllung oder pädagogische Infragestellung, sondern als etwas Atonales, das aber zugleich als etwas Wahrhaftiges rüberkommt, denn wir alle sind ja selber extrem atonal gebaut.
NZZ: Wie werden Sie 2011 in Venedig den deutschen Biennale-Pavillon bespielen?
Schlingensief: Mit nationalen Repräsentationsorten habe ich seit meinem Bayreuther «Parsifal» Erfahrung, und natürlich habe ich eine gewisse Vorliebe für derart mythische Angelegenheiten. Meine besten Filme spielen in einem Bunker, einem Lager oder einem dunklen Mischmasch zwischen zerstrittenen Vorstehern von Grossfamilien und dem Dritten Reich. Das ist quasi der Urstoff meiner Arbeit, seit ich im Kinderzimmerchen nachts über Drehbüchern brütete. Kam ich mit einer Geschichte nicht weiter, habe ich sie in ein Lager oder ein Gefängnis verlegt, was zu einer enormen Konzentration führte und zur Reduktion auf die zentralen Fragen: «Was mache ich hier in meiner Zelle? Wie kann ich mich mitteilen? Wie komme ich hier raus?» Ich muss inzwischen aber nicht mehr jeden Raum mit den Namen «Drittes Reich» oder «Hitler» versehen. In Venedig finde ich die Giardini interessant, wo die Pavillons stehen. Wenn man das aus der Luft betrachtete, würde man sehen, wie man sich zur Zeit der Errichtung den Globalismus vorstellte: als eine Art Landkarte mit dem schrottigen Osten etwas weiter hinten, den Franzosen mit ein paar Schnörkeln, den etwas klotzigen Deutschen und den nordischen Ländern mit etwas mehr Glas. Das sind ganz interessante Blicke auf eine Gesellschaft, die ihre Kunst noch unter einem bestimmten Qualitätssiegel angemeldet hat und zu wissen glaubte, was echt französisch oder echt deutsch war. Ich kann damit ganz gut umgehen, weil ich viel im Ausland gearbeitet habe und mich nicht mehr permanent auf Deutschland beziehen muss. Auch mein «Parsifal» wäre in die Hose gegangen, wenn ich BDM-Mädel neben Hakenkreuzhaufen aus Scheisse auf die Bühne gestellt hätte. Mein Nazi-Ding ist keines, das mit wehenden Flaggen durch die Strassen rennt. Selbst im Film «100 Jahre Adolf Hitler» habe ich etwas ganz anderes gezeigt. Da fühle ich mich einem Fassbinder unendlich verwandt. Das Grundthema in Deutschland ist diese Selbstzerfleischung, diese Unzufriedenheit, dieses alles für sich in Anspruch nehmen Wollende, in dem die Schweiz auch ganz toll ist. Der Schweizer hat die Berge ausgehöhlt, hat seine Schokolade und braucht das Gefühl, einzigartig zu sein, sollte um ihn herum auch die Welt untergehen.
NZZ: Ihre Filme Ende der sechziger Jahre entstanden aus einem ganz anderen Impuls als Ihre heutige Arbeit. Wann haben Sie verstanden, worum es Ihnen geht?
Schlingensief: In den ersten Filmen ging es mir vor allem darum, dass man lacht. «Die Schulklasse» ist ja eine richtige Klamotte, ein Theaterstück, das ich mit neun Jahren geschrieben hatte. Daraus habe ich dann mit ein paar Freunden den Film gemacht. Das ging so weiter; Ende der Siebziger merkte ich, dass es überhaupt nicht mehr hinhaut. Anfang der Achtziger lernte ich Werner Nekes kennen, der mir den gesamten Mainstream komplett um die Ohren haute. Natürlich begann ich gleich, gegen Nekes zu opponieren. In «Tunguska», meinem ersten abendfüllenden Spielfilm, schickte ich Avantgardeforscher zum Nordpol, um die Eskimos mit deutschen Avantgardefilmen zu Tode zu foltern. Da sind wohl die Reibungspunkte entstanden, an denen ich gewachsen bin, aber ich hatte lange kein Gefühl echter Autonomie und habe bis heute Angst, mich mit Leuten so zu zerstreiten, dass nichts mehr geht. Trotzdem habe ich damals schon den Impuls gehabt, Harmonie zu zerstören, und bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen, wo die Leute immer genau zu wissen glaubten, wieso Film gerade politisch wertvoll ist, habe ich immer auf allem herumgehackt, um nachher so sehr darunter zu leiden, dass ich mich entschuldigen musste.
NZZ: Drückt sich dieses Bewusstsein für die Vielfalt der Möglichkeiten auch im Spektrum Ihrer Arbeit aus?
Schlingensief: Dieses Bewusstsein ist der Punkt der Befreiung, das Bekenntnis zur Widersprüchlichkeit, und ich verlange einfach, dass der Mensch aufhört zu tun, als wisse er, wer er ist. Niemand von uns analysiert, was wir ursprünglich einmal wollten. Natürlich gibt es Militärkarrieren, die von Kindesbeinen an wissen, dass sie wie der Opa nach Stalingrad wollen, die mit diesem Glauben dann auch sterben. Aber ich habe selbst Verwandte, die mit einer Gewissheit erzogen wurden und durchs Leben gingen und am Ende nun ganz weich werden und die Dinge in Frage stellen. Ich bin im Grunde ja religiös, nicht in einem esoterischen Sinne, aber ich sehe diese grosse Qualität im ersten Buch Mose, in dem Gott sagt, dass er alles wieder vernichten werde, was er geschaffen hat. Dieser Satz täte dem Menschen gut, wenn er ihn einmal innerlich vollziehen würde. Wir haben doch eigentlich nichts Sinnvolles auf die Beine gestellt, sondern immer nur so getan, als ob, um abzulenken von unserem eigenen Dilemma.
NZZ: Von den Fragen, mit denen der Verlag Ihre bald erscheinende Autobiografie ankündigt, stelle ich diese: Ist man der geworden, der man sein wollte?
Schlingensief: Nein. Ich bin nicht der geworden, der ich sein wollte, weil ich nie wusste, wer ich einmal sein könnte, wie man glücklich wird. Das Glück ist ja so eine Nanosekunde und funktioniert manchmal glänzend, aber im Grossen und Ganzen? Fassbinders «Satansbraten» war für mich in dieser Hinsicht immer ein Schlüsselfilm: Ich denke, dass die Menschen aller Gesellschaften, die sich anstrengen, Ordnungen zu schaffen, nur auf der Suche nach einem Plätzchen sind, wo sie in Ruhe leben können. Aber das klappt nicht, weil die Unwägbarkeit des Lebens eben auch die Qualität des Lebens ist. Natürlich lache ich viel, aber aus diesem Funken heraus, dass das Leben eine ziemlich ernste Angelegenheit ist. Ich finde, Ironie ist nicht unbedingt das Beste, was unsere Generation zu vertreten hat, und dass wir uns sehr damit schaden, wenn wir alles immer gleich in diesen Samstagabend-Komödienbereich hineinziehen, wo alles nur noch Witz und Satire ist und alle mitlachen sollen. Glückseligkeit heisst, frei zu sein – auch so frei zu sein, sich selbst in Frage zu stellen. Aber das kriegt kaum einer hin, weil es schwer ist, ganz allein und für sich selbst eine Entscheidung zu treffen und zu sagen: «Ich bin nicht der, der ich sein wollte. Wie kam es dazu?»
Quelle: Neue Zürcher Zeitung, 17. Juli 2010