DER EUROPÄER VERSTEHT GAR NICHTS (WELT)

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Christoph Schlingensief arbeitet sich mit seiner Brüsseler Nono-Bearbeitung „Via Intolleranza II“ an unserem Afrika-Bild ab

VON HARALD REITER

Zwei Lebensthemen hatte der Theatermacher Christoph Schlingensief in den vergangenen beiden Jahren. Seine Krebserkrankung. Und Afrika. In der Nähe von Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, entsteht gerade sein Operndorf-Projekt Remdoogo (Festsaal). Dort werden ein Theater, eine Schule und ein Krankenhaus gebaut, es wird Tanz- und Gesangsunterricht sowie die Möglichkeit geben, mit medialen Ausdrucksformen wie Fotographie und Film zu experimentieren. Der Clou dabei soll sein, dass die Bewohner von Remdoogo diese Fähigkeiten weitgehend autark erlangen. Der Europäer stellt lediglich die Mittel bereit. Schlingensief will damit weg vom Missionarischen, weg vom üblichen „wir zeigen denen, wie es geht“.

Christoph Schlingensief reibt sich an Afrika. Vor allem reibt er sich am Verhältnis oder besser: Nichtverhältnis der Europäer zu Afrika. Diese Reibung ist auch zentrales Thema seiner Neubearbeitung, Umarbeitung von Luigi Nonos Agitationsoper „Intolleranza 1960“, die jetzt in Brüssel uraufgeführt wurde (und anschließend vom 23. bis zum 26. Mai im Hamburger Kampnagel, im Juni an der Bayerischen Staatsoper sowie im Rahmen der Wiener Festwochen zu sehen sein wird).

Ebenso wie bei Nono ist Schlingensiefs „Via Intolleranza II“ ein flammendes Plädoyer gegen Unterdrückung und die Verletzung der Menschenwürde. Ebenso wie Nono greift auch er auf Lyrik und philosophische Texte zurück. Da enden allerdings die Gemeinsamkeiten. Luigi Nonos Musik kommt lediglich in einigen kurzen Passagen durch Benutzung eines transistorradioartigen Abspielgerätes oder durch Variationen einer auf der Bühne agierenden experimentellen Jazzcombo zum Einsatz. Ansonsten ist traditionelle und folkloristische Musik aus Burkina Faso zu hören, lustvoll gehässige Populärzitate von „Oh When the Saints“ bis „Hoch auf dem gelben Wagen“ sowie House und einige Versatzstücke aus Wagner-Opern. Das Klangbild aus Musik und Toneffekten würde man in der Clubkultur als „fett“ bezeichnen.

Den visuellen Rahmen für „Via Intolleranza II“ bilden Ausschnitte des italienischen Stummfilms „Inferno“ von 1911, der den ersten Teil von Dantes Göttlicher Komödie in ein expressives Pandämonium übersetzte. Das Bühnenbild besteht aus Sitzgelegenheiten, Tischen und einem Stehpult sowie aus mehreren Schaukästen. Die Bühne ist, der Länge nach, durch Vorhänge teilbar, auf die auch projiziert wird.

So eklektisch die Musikauswahl anmuten mag, so klar werden die Themen durchgeführt. Die Intoleranzen, gegen die Schlingensief zu Felde zieht, sind nicht mehr die offensichtlichen wie Rassismus oder territoriale Begehrlichkeiten. Es geht ihm um das, was, von uns Europäern oft unerkannt, in uns sitzengeblieben ist, also das Helfen von oben herab, der noch immer stillschweigend vorhandene Glaube an die Unfähigkeit der afrikanischen Völker sowie an die Überlegenheit der „klassischen europäischen Großform“. Besonders erfreulich ist anzuhören wie schlecht dabei der Altruismus wegkommt. Die Psychologie des Feelgood-Helfens wird gnadenlos durch den Kakao gezogen.

Potenziell betrifft dies Christoph Schlingensief und sein Remdoogo-Projekt selbstverständlich selbst. In das könnten sich schließlich solche Tendenzen einschleichen. Entsprechend handelt „Via Intolleranza II“ auch autobiografisch von Christoph Schlingensief und seinem Umgang mit Afrika, in einem Rundumschlag werden seine beiden vergangenen Lebensjahre Teil der Handlung: Schlingensiefs Krebserkrankung, Schlingensief mit Henning Mankell in Kamerun, der Beginn der Arbeit in Burkina Faso, die chaotisch-verrückte, unterfinanzierte Produktionsgeschichte, die das Stück durchlaufen hat. Sein Leiden, Afrikas Leiden, die teilweise unmenschlichen Entbehrungen, die die Theatertruppe auf sich nehmen musste, das alles wird eins und verarbeitet.

Der afrikanische Teil der Besetzung von „Via Intolleranza II“ wurde in Burkina Faso gecastet, darunter Theaterneulinge, aber auch einige bemerkenswerte Profikünstler. Das Zusammenspiel zwischen europäischen und afrikanischen Darstellern beschriebenen Maßgabe ist eindeutig noch „work in progress“ und wird auch ohne Scheu so präsentiert. Da entstehen greifbare, manchmal gefährlich wirkende Spannungen, da gibt es Aggressionen, Durcheinander und Aneinander vorbeireden, wobei ein Teil des Reizes davon ausgeht, dass die Grenzen zwischen Chaos, Improvisation und bewusster Inszenierung fließend sind und gekonnt verwischt werden.

Vor dem Auge des Betrachters zieht eine zuweilen fast filmische Collage von allegorischen Bildern und Szenen vorbei, mal musikalisch untermalt, mal nicht. Die typischen Vorstellungen und Vorurteile, die uns Europäern hinsichtlich Afrikas und unseres Verhältnisses zu „denen“ (haben wir eigentlich eines?) im Kopf herumschwirren, werden von Schlingensief teils lustvoll ironisiert, teils sehr provozierend an die Wand genagelt.

Da gibt es Folklore, Gewalt gegen Frauen, da gibt es die dicke Mama, die zwischen Gebrüll und Gefühlsduselei hin und her oszilliert, die Afrikaner, die alles kaputtmachen und nichts begreifen, da gibt es ständig partyhafte Tanzausbrüche, exstatisches Jesus- und Hallelujah-Gebrüll. Und immer wieder afrikanische Protagonisten, die Dinge sagen, tun und können, die wir im Zuschauerraum und die Europäer auf der Bühne so nicht erwarten. Aber das ist unser Problem. Kerstin, die Berliner Theaterputzfrau zum Beispiel, versteht gar nichts und darf nie ausreden.

Vieles davon wird doppelbödig präsentiert, gut austariert, sodass man sich nie sicher sein kann, ob nun gerade Echtes und Ernstgemeintes oder ein Klischee vorgeführt wird. Dieser Erzählstrang kulminiert im Tanzduell eines afrikanischen Tänzers mit einem französischen, der sich auf die unangreifbare Überlegenheit seiner Kultur und Bildung beruft. Der Afrikaner tanzt hinterher, bis der Franzose ihn höhnisch auffordert, „Hunger“ zu tanzen. Alles am Körper des Tänzers klappt auf, die Finger, die Arme, die Augen der Mund. Er sackt langsam nach hinten, wird zu dem Loch, das ihn auffrisst. Das Duett-Duell ist zu Ende, mehr gibt es nicht zu sagen. Ein Theatermoment, der nachwirkt und auch am nächsten Morgen noch Gänsehaut erzeugt.

Der erfreulichste Aspekt von „Via Intolleranza II“ abe ist, dass zwar durchaus mal deklamiert wird, die Vermittlung der Themen aber hauptsächlich mittels einer Reihe sehr schlüssiger Bilder und Assoziationsketten abläuft, die erst im letzten Viertel ein wenig aus dem Ruder laufen und an Präzision verlieren. So ist das Ganze am Ende dann unterhaltsam, selbstironisch, wütend, wunderbar boshaft und manchmal ätzend komisch.

Quelle: Die WELT vom 17. Mai 2010